Der Sucher (German Edition)
können. »Du zählst deine Fangarme?«
»Allerdings. Und diesmal hätte ich es bestimmt geschafft, bestimmt, wenn du nicht dazwischengekommen wärst!« Einer der Fangarme ringelte sich auf mich zu, um mich wieder zu packen und unter Wasser zu zerren.
»Warte!«, rief ich. »Wie wäre es, wenn ich dir helfe?«
»Du kannst zählen, kannst du das?« Die Haut des Krakenmenschen verfärbte sich vor Aufregung zu einem zarten Korallenrot.
»Ein bisschen«, sagte ich bescheiden. »Für den Hausgebrauch reicht‘s.«
Es wurde nicht so einfach, wie ich gedacht hatte. Der Krake konnte einfach nicht stillhalten. Außerdem musste ich mich auf die Füße quälen und um ihn herumgehen, um sicher zu sein, dass ich keinen Arm übersah. Doch schließlich hatte ich es geschafft. »Gratuliere«, sagte ich. »Es sind fünfzehn!«
»Fünfzehn! Das sind zwei mehr, als Ri‘badur vom Celican-Riff hat!« Es ist kein sonderlich hübscher Anblick, wenn ein Krake übers ganze Gesicht strahlt, aber ich war trotzdem gerührt von seiner Freude. Weil meine Beine sich noch ziemlich wackelig anfühlten, setzte ich mich erst mal. Wir stellten uns gegenseitig vor, und ich erfuhr, dass er Ri‘naldus hieß und achtzig Winter alt, also gerade ausgewachsen war.
»Gibt es vielleicht die winzig kleine Möglichkeit, dass du mich einfach freilässt?«, fragte ich vorsichtig. »Irgendwann würde ich deinen Herrn gerne kennen lernen, aber nicht gerade jetzt.«
»Na gut«, sagte Ri‘naldus großmütig. »Ich verstehe das. Du bist noch nicht bereit für diese wichtige Erfahrung. Aber du verpasst was!«
Mir fiel wieder ein, warum ich eigentlich hier war. »Sag mal, hast du zufällig vor paar Tagen einen anderen jungen Mann gerettet? Den suche ich nämlich.«
Wie sich herausstellte, hatte Ri‘naldus tatsächlich vor ein paar Tagen jemanden, auf den die Beschreibung des Zweiten Regenten passte, aus den Schächten gefischt. Ich merkte, wie mein Puls sich beschleunigte. »Hat er überlebt? Wo hast du ihn hingebracht?«
»Rat mal«, erwiderte Ri‘naldus. »Zu meinem Chef natürlich. Ich muss sagen, für jemanden, der zählen kann, bist du ganz schön begriffsstutzig!«
Ich bat Ri‘naldus, mich zum Sohn der Regentin zu bringen und kurz mit ihm reden zu lassen, bevor er mich zu seinem Herrn verfrachtete. Aber obwohl ich seine Dankbarkeit aufs Äußerste strapazierte, schaffte ich es nicht ganz, ihn zu überreden. »Da gibt es noch ein kleines Problem, ein kleines«, meinte er zögernd. »Mein Chef will nicht, dass jemand von draußen die Höhlen und Tunnel sieht.«
»Dann verbind mir doch die Augen«, schlug ich vor. Gut, dass ich nicht verraten hatte, dass ich zumindest teilweise als Sucher ausgebildet war!
Ri‘naldus hielt das für eine gute Idee und schlang mir einen seiner Fangarme um den Kopf. Es war ein widerliches Gefühl, und mein Salamander floh von meiner Schulter bis hinunter zu meinem Handgelenk. Dann schwamm der Krake in rasender Geschwindigkeit los, zerrte mich durch verschlungene Unterwasserpfade, Tunnel und Höhlen. Nervös versuchte ich, mir jede Biegung, jede Veränderung des Wassers und Drucks einzuprägen, wie ich es gelernt hatte. Hoffentlich ließ mein Gedächtnis mich bei der Rückkehr nicht im Stich, sonst kam ich hier ohne Ri‘naldus Hilfe nie wieder raus! Und sich auf einen Halbmenschen zu verlassen, der mit jemand anderem verbündet war, schien mir ein gewagtes Spiel.
Schließlich durchbrachen wir die Wasseroberfläche. Ri‘naldus ringelte endlich den Arm von meinem Kopf – wahrscheinlich würde es eine Weile dauern, bis das unschöne Muster von Saugnapfabdrücken auf meinem Gesicht verblasste.
Wir befanden uns in einer kleinen Höhle, die von oben bis unten mit beige-grauen, matt glänzenden Tropfsteinen durchwuchert war und nach feuchtem Stein und Fledermauskot roch. Zwischen zwei Tropfsteinen hing eine schäbige Hängematte – und darauf lag ein schlaksiger junger Mann. Misstrauisch richtete er sich auf, um zu sehen, wer da eingetroffen war. Er hatte rotblonde Haare, ein blasses, sommersprossiges Gesicht und abstehende Ohren.
Gequirlte Schnepfengalle, ich kannte dieses Gesicht!
Nach ein paar Momenten fiel mir auch ein, woher. Es war der junge Mann, den ich im letzten Winter vor den Skas gewarnt hatte und der mich durch seine Deutung auf die Idee gebracht hatte, Sucher zu werden. Janor hatte er sich genannt. »Wie – du bist der Sohn der Regentin?«, entfuhr es mir. »Ich denke, du bist Vorhersager?«
Janor
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