Der Sucher (German Edition)
vorher.
Jetzt war die Frage – hatte es gewirkt? Ich beobachtete Joelle, die etwa einen Schritt entfernt stand, aus dem Augenwinkel, wandte mich ihr dann zu. Im gleichen Moment drehte sie sich ebenfalls zu mir hin, legte die Hand auf den glatten, weißen Stein des Herztors und strich darüber. Bildete ich es mir nur ein, oder war ihr Blick auf einmal so warm wie nie zuvor?
Manchmal muss man einfach ein Risiko eingehen. Ich nahm sie in die Arme und küsste sie. Doch sehr schnell merkte ich, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war. Verblüfft und starr hing sie in meinen Armen, schmiegte sich nicht an mich
O nein! Es hatte nicht gewirkt, und ich hatte mich gerade völlig zum Narren gemacht! Verlegen ließ ich sie los. Was hatte ich getan? Hätte ich sie doch nur nicht so plötzlich umarmt, hätte ich nur besser auf ihre Signale geachtet! Hätte ich doch nur nie von dieser verdammten Legende gehört!
Völlig verkrampft stand sie da, blickte mich aber nicht an. »Tjeri, ich ...«
Womöglich dachte sie jetzt, ich hätte sie nur hergelockt, um sie zu irgendetwas zu zwingen! Oder dass ich eine Gegenleistung wollte dafür, dass ich ihr nach Ynea suchen half ...
»Ich ... Es tut mir Leid ...«, stammelte ich – und dann hielt ich es nicht mehr aus. Mit schnellen Schritten ging ich davon, warf mich in den See, schwamm, so schnell ich konnte. Aber nicht in Richtung der Luftkuppel. Wie konnte ich Joelle nach dem, was passiert war, je wieder in die Augen sehen?
Verwirrt und unglücklich zog ich mich am anderen Ufer an Land und stellte fest, dass ich im Blauen Bezirk, dem Viertel der Händler, gelandet war. Selbst um diese Zeit herrschte hier noch Betrieb; vielleicht hörten die Menschen der Luft-Gilde die ganze Nacht nicht auf, Geschäfte zu machen, zu zechen und zu erzählen. Wenn ich Geld dabei gehabt hätte, wäre ich vielleicht in Versuchung gewesen, mich zu betrinken. So aber driftete ich nur durch die Stadt und nahm kaum etwas von dem wahr, was um mich herum geschah. Es interessierte mich nicht, ob die Leute mich komisch ansahen, weil ich zur Wasser-Gilde gehörte, und wenn mich jemand niedergeschlagen hätte, hätte ich mich vielleicht sogar bedankt. Immer wieder musste ich an die peinliche Szene von vorhin denken. Joelle liebte mich nicht, vielleicht mochte sie mich nicht mal, ich hatte mir die ganze Zeit etwas vorgemacht ... Ich war ja nur ein arroganter Tieftaucher mit einer scharfen Zunge, wie soll man so jemanden mögen ...
Irgendwann – die Dämmerung konnte nicht mehr weit sein – war ich so müde, dass ich mich in einem geschützten Winkel der Stadt zusammenrollte und mit dem Kopf auf der festgestampften Erde einschlief.
Ich erwachte davon, dass eine Hand mich an der Schulter rüttelte. Verschlafen drehte ich mich um und blinzelte ins Licht. Es war keine Stadtwache, sondern ein blonder junger Mann mit sandfarbenem Umhang. »Ist vielleicht besser, wenn du dich woanders hinlegst, hier kommt gleich eine Karawane aus Nerada an«, sagte er freundlich. »Du könntest einen Tritt von einem Dhatla abkriegen, und das soll nicht besonders angenehm sein, hab ich mir sagen lassen.«
Ich nickte, stand langsam auf und lehnte mich gegen die Wand des Hauses.
»Aus Vanamee, was?«, meinte der junge Mann. »Zum ersten Mal in der Stadt?«
»Ja«, sagte ich. Er merkte, dass ich nicht reden wollte, und fragte erstmal nichts mehr. Das ging sowieso nicht, weil die Karawane gerade eintraf. Schwerfällig stampften die hoch mit Kornsäcken und allerlei Gegenständen bepackten Dhatlas mit ihren Reitern an uns vorbei. Jemand schimpfte wie eine Grollmotte, weil eins der Tiere gegen seine Hauswand getaumelt war und sie eingedellt hatte. Ein paar Dutzend Zuschauer standen auf den Brücken, die kreuz und quer durch den Bezirk führten, und riefen Grüße und aufmunternde Scherze.
Als die Dhatlas verschwunden waren und der Lärm und der Staub sich langsam wieder legten, stand der junge Mann immer noch da. »Alles klar mit dir?«
»Na ja, geht so.«
»Magst du zu uns zum Frühstücken kommen? Meine Eltern machen sowieso immer viel zu viel, wir haben oft Gäste. Ich heiße übrigens Wynn.«
»Tjeri«, erwiderte ich automatisch und blickte ihn ungläubig an. Meinte er das ernst? Er wollte mich, einen verdreckten, unrasierten Kerl, der einer anderen Gilde angehörte und den er bis gerade eben noch nie gesehen hatte, zum Frühstücken einladen? Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Aber dann stellte
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