Der süße Hauch von Gefahr
sehen.«
»Als ob ich das erlauben würde«, erwiderte Juliana und betrachtete ihre Schwester kritisch. Das Fieber hatte schon vor ein paar Tagen zu sinken begonnen, dennoch sah Thalia bleich und geschwächt aus. Die schlimmsten Flecken des Ausschlags verblassten allmählich, doch sie hatte Gewicht verloren – wegen der Krankheit, aber auch wegen der unablässigen Sorge. Ihre sonst sahnige Haut war fleckig, und ihre Augen waren eingesunken; allerdings war inzwischen eine leichte Besserung erkennbar. Es würde noch eine Weile dauern, ehe sie das Krankenzimmer verlassen konnte, aber die Krankheit schien allmählich überwunden.
Thalia schloss die Augen; Tränen quollen unter ihren langen Wimpern hervor und liefen ihr über die Wangen.
»Das ist alles meine Schuld. Der arme Papa ist so böse auf mich, und obwohl du kein Wort gesagt hast, weiß ich doch, wie enttäuscht du von mir bist, wie sehr du dich schämst meinetwegen. Wenn ich doch nur nicht so dumm gewesen wäre …« Sie schluchzte erstickt.
»Ich verdiene es gar nicht, glücklich zu sein und meinen geliebten Caswell zu heiraten. Ich verdiene es, mit einem Scheusal wie Ormsby verheiratet zu werden.«
»Du verdienst mit Sicherheit den Mann, den du von ganzem Herzen liebst, und es ist völlig ausgeschlossen, dass ich zulasse, dass du diesen widerlichen Kerl heiratest«, erklärte Juliana mit Nachdruck.
»Du warst auch nicht dumm, und ich schäme mich deiner auch nicht! Ich kann nicht so tun, als ob ich nicht verärgert wäre, und Papa auch nicht, aber wir lieben dich und haben dir längst verziehen, praktisch gleich, nachdem wir von den Briefen erfahren hatten. Papa weiß, wie ich auch, dass du jung warst und unerfahren, was Ormsby rücksichtslos ausgenutzt hat.« Sie streichelte Thalia zärtlich über die Wange.
»Nichts, was du tun könntest, würde jemals dazu führen, dass wir aufhören würden, dich zu lieben, oder dass wir uns deiner schämen würden.«
Thalia schlug die Augen auf, und das abgrundtiefe Elend, das Juliana darin las, tat ihr beinahe weh. Mit leiser Stimme fragte Thalia:
»Denkst du, ich sollte Caswell wegschicken und Ormsby heiraten? Wenn ich das t-täte, k-könntest du in dein hübsches kleines Haus zurück und P-Papa müsste sich nicht mehr sorgen. Es w-wäre n-nicht wichtig, was mit mir wird. Eine Ehe mit Ormsby w-wäre n-nur die g-gerechte Strafe für meine Dummheit.«
»Was für ein unglaublicher Unsinn!« Juliana beugte sich vor und nahm eine von Thalias schlaffen Händen zwischen ihre.
»Hör mir gut zu, Süße«, sagte sie leise.
»Ja, du warst ein bisschen dumm, aber wenn Ormsby ein Ehrenmann wäre, wäre all dies nicht geschehen. Ich schwöre dir, dass wir einen Weg finden werden, um aus dieser entsetzlichen Klemme herauszukommen.«
»Ich kann nicht erkennen, wie«, klagte Thalia.
»Solange Ormsby meine Briefe hat …« Ihre Stimme erstickte in Tränen, sie wandte den Kopf ab und vergrub ihr Gesicht in den Kissen, unfähig weiterzusprechen.
Wenn Juliana in dem Moment ein Schwert hätte ziehen und Ormsby damit durchbohren können, sie hätte es getan. Sie hatte nie in ihrem Leben eine so hilflose Wut verspürt oder einen so heftigen Wunsch, einem anderen Lebewesen etwas anzutun, wie jetzt.
Sie bemühte sich um äußerliche Gelassenheit und erhob sich. Sich vorbeugend strich sie mit den Lippen über Thalias Stirn, dann sagte sie ruhig:
»Dafür ist die Krankheit verantwortlich, dass du den Mut verlierst. Wenn du heute Nacht schläfst, möchte ich, dass du an Caswell denkst. Überlass Ormsby mir.«
Thalias knappes Nicken war nicht ermutigend, aber Juliana wusste, dass sie jetzt nichts weiter tun konnte. Sie schloss die Tür leise hinter sich, stand einen Augenblick reglos auf dem Korridor und lehnte den Kopf an den Türrahmen.
Für Thalia und ihren Vater hatte sie eine tapfere Miene aufgesetzt, aber ihre Zweifel daran, dass es ihr gelingen würde, auch mit Ashers Hilfe, alles am Ende zum Guten zu wenden, drohten sie zu überwältigen. Ihr Vater und ihre Schwester zerfleischten sich innerlich, und sie konnte es nicht ertragen, zuzusehen, wie sie litten. Keiner von ihnen konnte so noch viel länger weitermachen. Es muss etwas unternommen werden, dachte sie verzweifelt, und zwar bald.
10
J uliana war so in ihre trüben Gedanken versunken, dass sie Asher erst gar nicht hörte, als er leise an die Scheibe der Terrassentür klopfte. Einen oder zwei Augenblicke später drang dann das immer hartnäckigere Geräusch von
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