Der süße Hauch von Gefahr
London hatte sie ihn nicht mehr als acht- oder neunmal gesehen, seit sie erwachsen waren. Er war oft fort gewesen, und sie hatte geheiratet, war weggezogen und dann als Witwe in das Haus ihres Vaters zurückgekehrt.
Der Lauf ihres Lebens hatte verhindert, dass ihre Wege sich häufig kreuzten, sodass es vieles an dem erwachsenen Asher gab, das sie nicht kannte. Als Junge war er meist freundlich, wenn auch manchmal sprunghaft oder auch ungeduldig ihr gegenüber gewesen, aber nie grausam. Und er hatte sie auch nie schikaniert. Wenn sie heiraten würden, hatte sie keine Sorge, dass er sie schlagen oder körperlich misshandeln würde. Sie hatte auch kein Gerede darüber gehört, dass er ein Trinker war oder ein Spieler … oder ein Weiberheld. Man konnte höchstens vermuten, dass er seine Laster nicht offen auslebte, aber Juliana glaubte nicht, dass er einem von diesen frönte.
Eine Sache wusste sie aber mit Sicherheit: Er liebte seine Familie, besonders aber seine Großmutter. Er behandelte sie stets mit größter Zuvorkommenheit und Sorge, Achtung und Zuneigung. Konnte man daraus nicht schließen, dass er einer Ehefrau dieselbe Fürsorge angedeihen lassen würde, dieselbe Rücksichtnahme zeigen? Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie an Mrs Manleys jungen Hundewelpen Apoll denken musste. Wie viele Männer hätten so viel Einfühlungsvermögen für eine alte Dame bewiesen? Und sie vertraute ihm, machte sie sich klar. Warum sonst war sie zu ihm gegangen, als sie bei Ormsby Hilfe brauchte?
Sie seufzte und drückte das Kissen fester an sich. War sie ein Dummkopf, gezögert zu haben? Die eine Hälfte von ihr war dieser Ansicht, aber ein Hang zur Sachlichkeit, die Hälfte ihres Wesens, die es in vollen Zügen genoss, ein unabhängiges Leben zu führen, ohne einen Mann im Nacken, war nicht restlos überzeugt. Juliana unterdrückte ein Gähnen, die Erschöpfung gewann die Oberhand. Sie versuchte sich zu konzentrieren, wach zu bleiben, aber ihre Müdigkeit war stärker; sie schloss die Augen.
Ganz früh am Morgen des nächsten Tages, noch weit vor Sonnenaufgang weckte sie ein Klappern. Sie setzte sich auf, blickte sich schlaftrunken in ihrem Zimmer um und fragte sich, was sie geweckt hatte. Um sie herum herrschte Finsternis, und sie wollte sich gerade zurück in die Kissen sinken lassen, als es erneut klapperte.
Sie erkannte es als das Geräusch von Kieselsteinen, die an die Fensterscheibe geworfen wurden, sie kroch aus dem Bett und lief zum Fenster. Es war nicht allzu schwer, zu erraten, wer der Steinewerfer war, daher stieß sie das Fenster auf, lehnte sich hinaus und zischte ihm zu:
»Pst! Lass das.«
»Das werde ich, da ich nunmehr deine Aufmerksamkeit errungen habe«, erklärte Asher gelassen.
»Du bist wirklich schwer wach zu bekommen, ich habe bestimmt schon zehn Minuten lang Steinchen an deine Fensterscheibe geworfen.«
Im trüben Licht des Morgengrauens war seine hochgewachsene Gestalt auf dem Rasen unter ihr kaum erkennbar. Weil sie wusste, dass sie jeden Moment entdeckt werden konnten, schimpfte sie:
»Bist du verrückt? Was willst du hier zu dieser Stunde?«
»Die Früchte meiner Mühen abliefern, Süße. Wir treffen uns gleich an der Tür zur Bibliothek, dann gebe ich sie dir.«
»Du hast Thalias Briefe?« Sie schnappte vor Überraschung nach Luft und war mit einem Schlag hellwach.
»Jetzt sag aber nicht, du hättest an meinen Fähigkeiten diesbezüglich gezweifelt, werte Dame«, spottete Asher gutmütig.
Juliana schloss das Fenster, wirbelte herum und suchte hastig im Dunkeln nach ihrem Morgenrock; während der Nacht war er vom Bett auf den Boden gefallen, aber schließlich ertastete sie ihn dort. Sie zog ihn sich rasch über und band den Stoffgürtel um ihre Taille zu, dann hastete sie aus dem Zimmer.
Im Haus war es noch still, aber sie wusste, als sie die Treppe hinablief, dass die Diener bald aufstehen und sich in der Küche treffen würden, um ihr Tagwerk zu beginnen. Wenn sie nicht wollte, dass unerwünschte Fragen aufkamen, oder sie in einer kompromittierenden Situation mit Asher entdeckt wurde, blieben ihr nur wenige Minuten, ehe sich die bloße Möglichkeit, einem verschlafenen Dienstboten zu begegnen, zur Sicherheit steigerte.
Sie kam an die Bibliothek, schlüpfte hinein und schloss die Tür hinter sich. Dem Sofa, auf dem sie erst vorige Nacht das leidenschaftliche Erlebnis mit Asher gehabt hatte, keinen Blick gönnend, eilte zu den Terrassentüren und öffnete eine. Asher trat
Weitere Kostenlose Bücher