Der sueße Kuss der Luege
als Beute zu machen, war ihm klar geworden, dass er das alles in größerem Stil angehen musste. Klotzen, nicht kleckern! Und mittlerweile hatte er auch schon eine Idee, zu der ihm nur noch der richtige Komplize gefehlt hatte.
Mit einem breiten Grinsen betrachtete er seinen Blutsbruder, der gerade eine elegante Schraube vom Dreimeterbrett drehte und ohne einen einzigen Spritzer mit dem Kopf voran in das Wasser eintauchte.
So wie der aussah, ging es ihm ziemlich gut. Umso besser, denn es war höchste Zeit für Jo, seine Schulden bei ihm zu begleichen. Jan fuhr sich durch die spärlichen blonden Haare, rückte seine weißen Bademeisterhorts zurecht und lief seinem Bruder entgegen.
Lu am Freitag, dem 9. Juni 2012, 6:30 Uhr
Als ich plötzlich mit einem Ruck wieder aufwache, bin ich völlig verwirrt und weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe.
Mein Kopf dröhnt, als wäre darin etwas explodiert, mein Mund ist trocken, und als ich mich vorsichtig bewege, tut mir jeder Knochen im Leib weh. Ich höre eine Sirene sehr laut über meinem Kopf. Doch ich liege nicht in einem Krankenwagen und auch nicht in meinem Bett im Krankenhaus, obwohl ich noch immer das hinten offene Krankenhausnachthemd trage und in eine weiße Decke gehüllt bin. Meine Unterlage fühlt sich an wie Leder, jedenfalls nicht wie eine Matratze. Ich will mich aufrichten, doch es schaukelt, oder schaukelt es nur in meinem Kopf?
Mein Blick fällt auf ein Fenster schräg über mir, es ist klein und es erinnert mich an ein Autofenster.
Im gleichen Moment fängt mein Herz wie verrückt zu rasen an und ich muss schneller atmen. Was ich da sehe, macht mir viel mehr Angst als der Sprung von der acht Meter hohen Holbeinbrücke in den Main.
Ich bin definitiv nicht mehr im Krankenhaus!
Hektisch versuche ich, mich hochzurappeln, fast wird mir wieder schwarz vor Augen, aber ich schaffe es.
Ja, ich sitze wirklich in einem Auto. Besser gesagt auf dem Rücksitz eines Autos, das mit hoher Geschwindigkeit über die Straße jagt. Und es ist auch kein normales Auto, sondern ein Wagen mit Funksprechanlage und vielen Tasten auf der Konsole… und am Steuer sitzt nicht Hinze oder irgendein anderer Polizeibeamte, sondern…
Ich schließe die Augen, öffne sie wieder, das hier ist ein Albtraum, ich muss aufwachen, das liegt an den Beruhigungsmitteln, die sie mir gegeben haben.
»Lu, bitte, dreh jetzt nicht durch.«
Es ist kein Albtraum.
Es ist die Wirklichkeit.
Eine ungeahnte Woge von Hass ätzt sich durch meinen Körper, der schlagartig voller Energie ist und hellwach.
Ich rutsche auf die vordere Kante der Rückbank, zerre ihm die lächerliche falsche Polizeimütze herunter und reiße seinen Kopf an den struppigen Haaren so fest ich kann nach hinten. »Wo ist Ida?«, keuche ich. »Ida, sag mir, wo sie ist! Sag mir, dass es ihr gut geht!«
»Aaaaahh!« Diego stöhnt gequält auf. »Lu, hör auf, ich erkläre dir alles, aber hör auf, sonst baue ich einen Unfall und damit ist keinem von uns geholfen!«
Am liebsten würde ich ihm diese schwarzen Haare ganz ausreißen, jedes Haar einzeln. »Wo ist Ida«, brülle ich weiter. »Was hast du elender Dreckskerl mit ihr gemacht?«
Diego wimmert vor Schmerz, verringert aber die Geschwindigkeit, mit der wir über die Autobahn rasen, kein bisschen.
»Ich bin unschuldig, Lu. Ich habe Ida nicht angefasst!«
Ich zerre noch heftiger an diesen verdammten schwarzen Haaren, denke nur an Ida, und das gibt mir Kraft.
»Du bist unschuldig? Und was mache ich dann hier in deinem Fake-Polizeiwagen?«
»Ich kann dir alles erklären.«
»Spar dir deine Erklärungen! Fahr sofort rechts ran, wenn du Angst hast, einen Unfall zu bauen! Denn ich lasse dich nicht los. Nie mehr!« Ich zerre, so fest ich kann.
»Lu, ich bin unschuldig«, stöhnt er, »ich habe Ida nicht entführt, aber ich habe eine Idee, wo sie sein könnte. Bitte glaub mir.«
Mein Griff lockert sich nicht mal ansatzweise und jetzt verringert er tatsächlich das Tempo und fährt auf einen kleinen Parkplatz, wo er dann ganz stehen bleibt. Ich habe seine Haare immer noch fest in meiner Hand, aber plötzlich merke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Er ist viel stärker als ich und jetzt, da er nicht mehr fährt, hat er beide Hände frei.
Doch er versucht gar nicht, sich zu mir umzudrehen. Stattdessen angelt er nach einem Telefon, das auf dem Beifahrersitz liegt, wie ich erst jetzt sehe.
»Lu, pass auf«, sagt er und seine Stimme klingt gepresst. »Gib mir drei Minuten,
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