Der Sumpf: Psychothriller (German Edition)
Besitz ergriffen.
Es war schon nach Mitternacht. Die schwarze Nacht über Miami schien mit einem endlosen Netz funkelnder Sterne überspannt. Er sehnte sich danach, mit jemandem über seinen bevorstehenden Triumph zu sprechen, doch mit wem? Von den Menschen, mit denen er sein Hochgefühl hätte teilen können, war keiner mehr da, verloren durch Scheidung, Alter oder Tod. Vor allem dachte er an seine Eltern, doch sie lebten schon lange nicht mehr.
Beim Tod seiner Mutter war er noch ein junger Mann gewesen. Er sah die unscheinbare, stille Frau vor sich; bei ihrer sportlich-hageren Figur hatte sich jede Umarmung kantig und spröde angefühlt. Dafür hatte sie eine wohlklingende, volle Stimme, die sie mit allen Facetten zum Einsatz brachte, wenn sie Geschichten erzählte. Wie die meisten Frauen ihrer Generation war sie auf die Rolle der Hausfrau beschränkt geblieben und hatte ihn zusammen mit seinen Geschwistern großgezogen – ein endloser Zyklus von Windeln, Babynahrung und Zahnen, von blutig geschürften Knien, vermeintlichen Ungerechtigkeiten, Hausaufgaben und Basketballtraining bis hin zu Liebeskummer zwischen zwölf und siebzehn.
Sie war noch nicht wirklich alt gewesen, als sie – schnell, doch ohne große Dramatik – starb. In gerade einmal fünf Wochen durchlief sie alle Stadien von ungetrübter Gesundheit bis zum Tod, die an der gelben Verfärbung ihrer Haut, der entkräfteten Stimme und ihrem gebrechlichen Gang abzulesen waren. Sein Vater war praktisch an ihrer Seite gestorben, was ihn verwundert hatte. Als junger Mann hatte Cowart von den stürmischen Affären seines Vaters erfahren – alle von kurzer Dauer und höchst ungeschickt verheimlicht. Im Nachhinein erschien es ihm fast, als hätten sie weniger Schaden angerichtet als die Passion seines Vaters für die Zeitung, die allzu viel von seiner Zeit verschlang, so dass seine Familie viel zu stark in den Hintergrund trat. Daher konnten es die Kinder nicht glauben, als sich ihr Vater nach der Beerdigung sechs Monate lang wie besessen in die Arbeit stürzte und dann von einem Tag auf den anderen erklärte, er wolle in Frührente gehen.
Sie hatten alle lange mit ihm telefoniert und seine Entscheidung angezweifelt, ihn gefragt, was er danach ganz allein in einem großen, bedrückend leeren Haus mit sich anfangen wollte, noch dazu in der Vorstadt, mitten unter jungen Familien, die seine Nachbarschaft vielleicht befremdlich finden würden. Matthew Cowart war das jüngste von sechs Kindern, die zu Lehrern, einem Anwalt, einer Ärztin und einer Künstlerin herangewachsen waren und inzwischen quer über die Vereinigten Staaten verstreut lebten, keiner von ihnen nah genug, um ihrem plötzlich alten Vater zu helfen. Keiner von ihnen hatte das Offensichtliche kommen sehen. Er erschoss sich an seinem Hochzeitstag. Zwei Tage zuvor hatte er seinen Sohn Matthew abends angerufen. Sie hatten behutsam und distanziert über Reportagen und Artikel gesprochen. »Immer dran denken: Sie wollen nicht die Fakten, sondern die Wahrheit.« So etwas hatte er bis dahin kaum einmal zu ihm gesagt, und als Matthew versuchte, das Thema mit ihm weiterzuspinnen, hatte er das Gespräch unwirsch beendet.
Die Polizei hatte ihn mit einem kleinen Revolver in der Hand, einer Schusswunde in der Stirn und ihrem Foto auf dem Schoß an seinem Schreibtisch vorgefunden. Später hatte Cowart – einmal Reporter, immer Reporter – mit den Detectives geredet und sie gezwungen, die Szene in allen Einzelheiten zu beschreiben, damit er sie, nachdem er sie einmal gehört hatte, nie wieder vergessen konnte, auch wenn sie ausgesprochen nüchtern und prosaisch war: Sein Vater hatte ausgetretene alte Hausschuhe zu einem blauen Anzug und einer geblümten Krawatte getragen, die seine Frau ihm zu irgendeinem Vatertag geschenkt hatte. Vor ihm auf dem Tisch hatte die neueste Ausgabe der Zeitung mit seien Anmerkungen in Rot neben einer Limonade und einem angegessenen Sandwich gelegen. Er hatte sogar daran gedacht, der Putzfrau einen Scheck auszustellen, und ihn an den grünen Glasschirm seiner Leselampe geklebt. Rings um seinen Sessel war ein halbes Dutzend zerknüllte Papierblätter verstreut gewesen, als hätte er die Abschiedsgrüße an seine Kinder verworfen, ohne sie zu Ende zu führen.
Über Matthew funkelten die Sterne. Ich war der Einzige, der es mit seinem Beruf versucht hat. Ich dachte, das würde uns einander näherbringen. Ich dachte, ich würde es besser machen, ich dachte, er wäre stolz auf mich.
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