Der Täter / Psychothriller
Zähne zusammen. »Sagt Ihnen das irgendetwas?«
»Auf Anhieb nicht. Aber …«
»… das könnte der Greifer gewesen sein.«
»Das wäre durchaus plausibel. Die hatten alle irgendwelche Pseudonyme und Decknamen. Und sie beschreibt, wie ihr Bruder die Hand hebt …«
»Hat irgendjemand von diesen Leuten den Krieg überlebt?«
»Vielleicht ein oder zwei. Eine Frau haben die Russen vor Gericht gestellt, sie kam für einige Zeit hinter Gitter, und seitdem lebt sie unbehelligt in Deutschland.«
»Und die anderen?«
»Die verschwanden in den KZ s. Oder in den Trümmern. Wer weiß.«
Richtig, dachte Simon Winter. Das ist die Frage.
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9
Die hilfreiche Hand
W alter Robinson gab Gas und folgte dem G-75 über den Julia Tuttle Causeway, der von Miami Beach zum Zentrum von Miami fuhr. Es war Mittag. Er beobachtete, wie der Bus die dreispurige Autobahn hinauf ächzte, während die sengende Hitze gleich einem Schwamm eine Wolke Auspuffgase aufsaugte.
Miami ist eine langgestreckte Stadt. Endlos dehnt sie sich von Süden nach Norden die Küste entlang und schmiegt sich in ihrem ungebremsten Ausdehnungsdrang an die Umrisse der Biscayne Bay. Nicht nur das Bild, das die Metropole der Welt bietet, scheint vom glitzernden azurblauen Wasser inspiriert; vielmehr hat es den Anschein, als hinge ihr inneres Gleichgewicht vom Rhythmus des Ozeans ab. Seit einigen Jahren dringt die Stadt zudem Richtung Westen in die endlosen Sumpfgebiete der Everglades vor: Bauprojekte und Einkaufszentren wachsen wie ein Geschwür nach dem anderen aus der Ebene. Doch diese Entwicklung gehört zu den oft turbulenten Verwerfungen im Leben einer Metropole. Bei alledem bleibt Miami in seinem Wesenskern eine Küstenstadt, deren Herz im Takt der Wogen schlägt.
Walter Robinson allerdings hasste das Wasser.
Zwar genoss er das Panorama und kam – besonders wenn er über einem Fall brütete – immer wieder her. Er hatte schon lange herausgefunden, dass der Rhythmus der See, das monotone Geräusch der Wellen am Strand, auf subtile Weise dabei half, das Wesentliche vom Beiwerk zu scheiden und seine Überlegungen zu ordnen. So hatte er die Weite des Ozeans und der Küste als Katalysator zu schätzen gelernt. Sein Hass hingegen war eher politischer Natur.
In seinen Augen hatte das Wasser immer den Reichen gehört. Miami kann sich Dutzender Docks, Yachthäfen und Slip-Anlagen rühmen, während man in Strandnähe vergeblich Viertel sucht, in denen eine nennenswerte Anzahl Schwarzer lebt. Dies war ihm bereits in jungen Jahren bewusst geworden, wann immer er von der Armut des sogenannten Black Grove durch Viertel mit zunehmendem Wohlstand bis ans Wasser lief, wo er von ferne zusah, wie betuchte, einflussreiche Weiße mit ihren Segelyachten, Motorbooten oder großen Kabinenkreuzern ablegten, um auf dem Weg aufs offene Meer den Küstenstreifen entlangzugleiten. Als einsamer Beobachter war er sich schon immer bewusst gewesen, dass er sich durch seine Hautfarbe von praktisch allen unterschied, die dem Wasser zustrebten. Einmal hatte er sich bei seiner Mutter, die als Grundschullehrerin arbeitete, darüber beschwert und zur Antwort bekommen, wenn es ihn weiter regelmäßig nach Dade County zöge, müsse er schwimmen lernen. Erst als Erwachsener war ihm klargeworden, dass viele seiner Schulkameraden die Mühe nicht für wert befunden hatten, so eingefleischt war das Vorurteil, das Wasser gehöre anderen und nicht ihnen.
Folglich hatte sich Walter Robinson gezwungen, ein ausgezeichneter Schwimmer zu werden – schnell, kräftig und außerdem unerschrocken, wenn die Meeresströmungen gefährlich wurden und bedenklich an ihm zerrten.
Während er mit hohem Tempo die Dammstraße entlangfuhr, um den Bus nicht aus den Augen zu verlieren, spähte er immer wieder über die Bucht, die zu beiden Seiten der Straße schimmerte. Die Fahrt zwischen Miami Beach und Liberty City hatte stets etwas Irritierendes für ihn. Die Bucht schien der Verwahrlosung, die nur eine halbe Meile landeinwärts wartete, zu spotten. Nur sechs, vielleicht auch neun Häuserblocks weiter, und die Erinnerung an das kühle, blaue Wasser verdunstete in der erbarmungslosen, staubigen Hitze. Als der G-75-Bus in einer weiteren schmutzig grauen Auspuffwolke das Tempo drosselte, bevor er in eine Ausfahrt abbog und ins Zentrum der City eintauchte, folgte er ihm dichtauf.
Auch wenn es niemand laut aussprach, diente der G-75 nur einem einzigen Zweck: Er drehte seine Runde zwischen einem halben Dutzend
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