Der Täter / Psychothriller
anlegen. Kann mich ehrlich gesagt nicht mehr allzu gut erinnern.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Die Putzfrau, soweit ich mich entsinne. Vielleicht vierundzwanzig Stunden nach Todeseintritt. Steht in meinem Bericht.«
Der junge Mann schob einen gefächerten Aktenordner über den Schreibtisch. »Sehen Sie selbst nach. War wirklich nichts Außergewöhnliches. Verkraften Sie die Fotos, Mr.Winter? Kein besonders schöner Anblick.«
»Ähm, ich denke schon. Danke, Detective.«
»Na ja, dann werfen Sie einen Blick drauf. Anschließend beantworte ich, soweit ich kann, gerne Ihre Fragen. Bei dieser Art von Todesfällen sieht eigentlich einer aus wie der andere, verstehen Sie? Man merkt sich keine Einzelheiten. Tasse Kaffee?«
»Nein danke.«
»Nun gut, bin gleich wieder da.«
Der junge Detective stand auf und ließ Winter auf der anderen Seite des Schreibtischs mit der Akte zurück. Für einen Augenblick zögerte der ältere Mann und strich wie ein Blinder beim Lesen der Brailleschrift mit den Fingern über die rauhe braune Pappe. Er musste an all die Fallakten denken, die er selbst in seinen Dienstjahren mit Fotos, Berichten, Zusammenfassungen und Beweismitteln gefüllt hatte. Er schmunzelte bei dem angenehmen Gefühl, endlich einmal wieder einen solchen Ordner in die Finger zu bekommen. Er nahm ihn vom Tisch auf und wog ihn in der Hand. Federleicht, dachte er. Dann streifte er mit einem Feuereifer, den er selbst vollkommen unangebracht fand, aber nun einmal nicht leugnen konnte, das Gummiband ab, das die Akte zusammenhielt.
Zuerst wandte er sich den Fotos vom Leichenfundort zu. Es gab nur ein halbes Dutzend Hochglanzbilder im Format zwanzig zu fünfundzwanzig, vielleicht ein Zehntel von dem, was bei einem Mordfall üblich war. Auf den beiden wichtigsten war ein älterer Mann zu sehen, der in einem Schreibtischsessel aus braunem Leder zusammengesunken saß. Die seitlich ausgestreckten Arme vermittelten den Eindruck ungläubigen Staunens. Zwischen seinen Augen war aus einer Schusswunde in der Stirn Blut heruntergelaufen und hatte den Kragen seines Sporthemds durchtränkt. An der Wand hinter Herman Stein zeichnete sich deutlich ein Spritzmuster ab, in dem das Blut sich mit Hirnmasse und Schädelsplittern vermischte. Unterhalb der von Blut und Schießpulver rotbraun und schwarz gefärbten Eintrittswunde starrten Steins Augen geradeaus. Sein Mund war leicht geöffnet, was den Eindruck der Verwunderung unterstrich. Der beinahe kahlköpfige Mann hatte nur noch ein paar Büschel weißer Haare über den Ohren. Mit dem blutverschmierten Gesicht erinnerte er an einen grotesken Wasserspeier. Simon Winter sah sich die Bilder sorgfältig an.
Sag was, forderte er innerlich den Toten auf.
Er blätterte zum nächsten Foto weiter. Darauf war ein großer Revolver, Kaliber achtunddreißig, abgebildet, der unterhalb von Steins ausgestreckter Hand auf dem Boden lag. Es folgte eine Nahaufnahme von Steins Gesicht. Als Nächstes hatte man die Schreibmaschine auf seinem Tisch festgehalten. In der Walze steckte das Blatt mit den Abschiedszeilen. Eine weitere Nahaufnahme bestätigte, dass Rabbi Rubinstein sich richtig erinnert hatte.
Simon Winter las: »Ich bin des Lebens müde und vermisse meine geliebte Hanna, und so mache ich mich jetzt zu ihr auf den Weg.«
Er legte die Fotos beiseite und nahm sich die Berichte des Detective vor. Sie enthielten eine kurze Beschreibung des Leichenfundorts sowie eine Liste von Nachbarn, die bezeugten, dass Mr. Stein vor seinem Tod unter Depressionen gelitten habe. Winter fand die Telefonnummer des nächsten Angehörigen, eines Sohnes mit dem ungewöhnlichen Namen G. Washington Stein, und eine Adresse an einer großen Universität in New England. Den Autopsiebericht, der die offensichtliche Todesursache bescheinigte, überflog er nur. Was passiert, wenn ein Bleispitzgeschoss Kaliber achtunddreißig aus nächster Nähe in die Stirn eines Menschen abgefeuert wird, ist ziemlich leicht vorhersagbar. Der toxikologische Befund war abgesehen von Spuren Ibuprofen – gegen Arthritis vermutlich – negativ. Winter stieß in einem weiteren Formular auf einen Vermerk über den Besuch des Rabbi bei Detective Richards, und er entdeckte eine Kopie von Steins Brief. Im Abschlussbericht des Detective blieb sein Inhalt unerwähnt. Das Fazit des jungen Ermittlers war schlicht und einfach: Selbstmord aufgrund von Altersdepression.
Er ging die Akte noch einmal durch, um zu sehen, ob er irgendetwas übersehen hatte.
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