Der Täuscher
Ruhe über die Situation nach. Okay, ihre Kollegen von der Polizei verdächtigen mich nicht; sie ist nur hergekommen, um mir das Phantombild zu zeigen, das ich in ihrer Tasche gefunden habe, zusammen mit einer Liste von zehn anderen Leuten. Die zwei obersten Namen sind abgehakt. Ich bin die bedauerliche Nummer drei. Mit Sicherheit wird jemand nach ihr
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fragen; wenn es so weit ist, werde ich sagen, ja, sie sei hier gewesen, um mir das Bild zu zeigen, und dann wieder gegangen. Und damit wird die Angelegenheit erledigt sein.
Ich habe die elektronischen Geräte zerlegt, die Amelia 7303 bei sich hatte, und verstaue sie gerade in den entsprechenden Kisten. Einen Moment lang hatte ich in Erwägung gezogen, ihr Telefon zu benutzen, um die letzten, zappelnden Augenblicke von Thom Reston aufzuzeichnen. Das hätte eine hübsche Symmetrie gehabt, eine gewisse Eleganz. Aber es könnte natürlich bereits irgendein Nachweis dafür existieren, dass sie zu mir wollte, also muss sie vollständig von der Bildfläche verschwinden. Sie wird im Keller zur Ruhe gebettet werden, gleich neben Caroline 8630 und Fiona 4892.
Niemand wird je wieder von ihr hören.
Das ist nicht ganz so sauber, wie ich es mir wünschen würde -die Polizei möchte stets gern die Leiche sehen -, aber ich bin zufrieden.
Diesmal werde ich mir eine anständige Trophäe holen können. Meine Amelia 7303
wird nicht bloß ihre Fingernägel einbüßen..
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. Vierundvierzig
»Los, raus mit der Sprache!«, herrschte Rhyme den Neuling an.
Pulaski befand sich fünf Kilometer entfernt, an der Upper East Side von Manhattan, beim Haus von Andrew Sterling junior.
»Seid ihr drinnen? Ist Sachs da?«
»Ich glaube nicht, dass Andy unser Mann ist, Sir.«
»Sie glauben? Oder ist er es nicht?«
»Er ist es nicht.«
»Erklären Sie mir das.«
Pulaski berichtete Rhyme, dass, ja, Andy Sterling über seine Aktivitäten am Sonntag gelogen hatte. Aber nicht, um eine Vergewaltigung und einen Mord zu verheimlichen.
Er hatte seinem Vater erzählt, er würde den Zug nach Westchester nehmen, um dort zu wandern, aber in Wahrheit war er mit dem Wagen gefahren, wie ihm bei dem ersten Gespräch mit Pulaski versehentlich herausgerutscht war.
Mit zwei ESU-Beamten und Pulaski vor sich, gestand der verschreckte junge Mann nun schließlich auch, warum er seinen Vater angelogen hatte. Andy selbst besaß gar keinen Führerschein.
Aber sein Freund hatte einen. Andrew Sterling mochte der weltweit führende Informationslieferant sein, aber er wusste nicht, dass sein Sohn schwul war, und der junge Mann hatte nie den Mut aufgebracht, es ihm zu sagen.
Ein Anruf bei Andys Freund und eine Nachfrage bei der Mautzentrale bestätigten, dass die beiden Männer zum Zeitpunkt des Mordes nicht in der Stadt gewesen waren.
»Verflucht. Okay, kommen Sie zurück, Pulaski.«
»Ja, Sir.«
Lon Sellitto ging den dunklen Bürgersteig entlang. Mist, dachte er, ich hätte auch Coopers Waf e mitnehmen sollen. Sich eine Dienstmarke auszuleihen, wenn man suspendiert war, hatte andererseits
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nicht die gleichen Konsequenzen wie eine Waffe. Falls die Abteilung für innere Angelegenheiten Wind davon bekam, würde eine Kanone die bisher nur irgendwie missliche Situation zu einem Orkan aus Scheiße anwachsen lassen.
Und man hätte einen legitimen Grund, ihn trotzdem zu suspendieren, auch wenn der zweite Drogentest ihn entlasten würde.
Drogen. So ein Dreck.
Er fand die gesuchte Adresse. Carpenters Haus stand in einer ruhigen Ecke der Upper East Side. Es brannte Licht, aber Sel itto konnte keine Personen ausmachen. Er ging zur Tür und klingelte.
Er glaubte, von drinnen Geräusche zu hören. Schritte. Eine Tür.
Dann für eine lange Minute nichts mehr. Sellitto griff instinktiv an die Stelle, an der er sonst seine Waffe trug. Scheiße.
Schließlich teilte sich an einem der Seitenfenster ein Vorhang und fiel wieder zu. Die Tür ging auf, und Sellitto sah sich einem stämmigen Mann gegenüber, der sich das Haar seitlich über die Glatze gekämmt hatte und nun die illegal benutzte goldene Dienstmarke musterte. Seine Augen blinzelten nervös.
»Mr. Carpenter. .«
Mehr bekam er nicht heraus, denn die Unsicherheit des Mannes verschwand, sein Gesicht verzog sich zu einer zornigen Fratze, und er schrie: »Verflucht! Gottverflucht!«
Lon Sellitto hatte sich schon seit Jahren nicht mehr mit einem Täter geprügelt, und ihm wurde plötzlich klar, dass dieser Mann ihn mühelos blutig schlagen und ihm dann die
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