Der Tag, an dem das UFO vom Himmel fiel
doch Rosas Mutter –, schnauzte sie mich an: »Deine auch, zum Teufel!«
»Aber ich bitte dich doch nur um …«, sagte ich.
»Wenn du Angst vor dem hast, was dir passieren könnte,
wenn du bei diesem Jungen ins Auto steigst, dann steig eben nicht ein!«
Wir stritten, schrien uns sogar kurz an. Schließlich konnte ich sie überreden. Als Julian und ich an diesem Nachmittag gemeinsam die Bibliothek verließen, stand Rosa an der Ecke und sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Natürlich habe ich nicht »Hallo« gesagt. Ich habe ihr nicht zugenickt und sie nur so kurz wie möglich angesehen, als Julian und ich an ihr vorbeikamen. Aber ich bemerkte, dass ihre leuchtend braunen Augen mich fixierten, und auf einmal packte mich die grausame Gewissheit, dass ich sie nie wieder sehen würde. Die Trauer lastete so schwer auf mir, dass ich meine Beine kaum noch bewegen konnte. Derweil plapperte Julian von »Clarion«, dem zehnten Planeten, der sich hinter dem Mond verbarg, von dessen atemberaubenden Weltraumsirenen, jahrhundertealt, ohne zu altern, die auserwählte und nicht sonderlich vertrauenswürdige Erdenmänner aufsammeln und in ihren UFOs auf eine Spritztour mitnehmen. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte er überhaupt nichts gesehen.
Die Hitze war ungewöhnlich für Anfang April. Selbst bei offenen Scheiben, im wehenden Wind, merkte ich, dass ich schwitzte. Ich betastete den Knoten meiner Krawatte. Ich hätte sie am liebsten abgenommen oder wenigstens den Knoten gelockert. Julian sah aus, als sei ihm angenehm kühl in seinem blauen Blazer, der meinem ganz ähnlich war. Ich hatte schon halb erwartet, dass er seinen schwarzen Anzug tragen würde, aber das war offensichtlich nicht der richtige Anlass dafür.
»Wie kommt es, dass du mit fünfzehn schon Auto fahren darfst?«, fragte ich ihn. »Ich dachte, für eine vorläufige Fahrerlaubnis müsste man mindestens sechzehn sein.«
»Na, es ist ja kein Gebot vom Berge Sinai. Es ist nicht mal
eine Bundesvorschrift. Im Westen gibt es eine Menge Staaten, in denen alle schon mit vierzehn ihren Führerschein haben. Manche sogar mit zwölf. Die Kinder auf den Farmen müssen in der Lage sein, die Landmaschinen in die Stadt zu fahren. Sonst wird die Arbeit nie fertig.«
»Und was für landwirtschaftliche Maschinen musst du hier fahren, in Philadelphia?«
»Ha, ha. Was sind wir heute wieder witzig. Tatsache ist, das Gemeinwesen von Pennsylvania zeigt erhebliches Interesse an den Nachforschungen der SSS. Natürlich alles diskret und informell. Wenn wir unsere Recherche fortsetzen wollen, woran denen sehr gelegen ist, sind wir auf Mobilität angewiesen. Womit ich beim momentanen Stand der Dinge Auto mobilität meine. Daher werden Ausnahmen gemacht, wobei wir natürlich alle darauf achten, dass die Öffentlichkeit nichts davon erfährt.«
»Ausnahmen …« Ich fragte mich, ob man bei mir wohl auch so eine Ausnahme machen würde. Wie schön, wenn ich fahren könnte, wohin ich wollte … Dann wäre es egal, ob der Bus in Braxton hielt oder nicht. Aber könnte ich es lernen? Wäre das sicher? Meine Mutter ist früher auch gefahren, fast wie mein Vater, nur ohne sein Selbstvertrauen, bis sie einmal, als sie mit mir schwanger war, seinen Wagen zu Schrott fuhr – in einem »Moment der Unaufmerksamkeit«, wie sie es nennt. Ich komme nach ihr, hat sie oft zu mir gesagt, mit meiner verträumten Art.
»Papierkram«, sagte Julian. »Wir sollten dafür sorgen, dass du auch einen Führerschein bekommst. Ich gehe davon aus, dass du weißt, wie man ein Auto fährt?«
Ich schluckte und schüttelte den Kopf.
»Wirklich nicht? Das überrascht mich. Dann müssen wir es dir beibringen. Darum würde ich mir keine Gedanken machen.
Jeder Mensch besitzt ab einem Alter von zehn oder elf Jahren die Fähigkeit, ein Auto zu fahren. Leuten in unserem Alter mangelt es meist nur an Urteilsvermögen und Verantwortungsgefühl.«
»Und der Staat Pennsylvania traut dir Urteilsvermögen und Verantwortungsgefühl zu?«
»Selbstverständlich. Wie auch die Bibliotheksverwaltung, wenn sie mir unsere seltenen Bücher anvertraut. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wertvoll manche davon sind oder wie empfindlich. Wir haben sechzehn gebundene Manuskripte, hundertsiebenundvierzig Inkunabeln. Die Bibliothek traut mir irgendwie … »
»Hundertsiebenundvierzig was?«
»Inkunabeln. Wahrscheinlich sind es inzwischen hundertachtundvierzig. Je nachdem, ob wir hoch genug geboten haben
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