Der Tag, an dem das UFO vom Himmel fiel
die für mich vom Rest der Schnörkelei nicht zu unterscheiden waren. Sie las sie laut vor, mit einigem Genuss, wie ich fand, und fuhr mit dem Finger von einem Wort zum nächsten.
»Arabisch?«, sagte ich.
Sie nickte.
»Es wird von rechts nach links geschrieben?«
»Mh-hm. Wie Hebräisch.«
Sie sah mich an, und wir grinsten breit, als hätten wir ein Geheimnis, eine heimliche Verbindung zwischen Feinden, wenn nicht Außerirdischen. Mein Herz schlug schneller. Sie wandte sich wieder dem Text zu. »Preis sei dem «, übersetzte sie, »der seinen Diener bei Nacht von der Geweihten Moschee – das ist in Mekka – zur Fernsten Moschee, die Wir ringsum gesegnet haben – das ist der Felsendom in Jerusalem – , reisen ließ, damit Wir ihm etwas von Unseren Zeichen zeigen. Das ist aus dem Koran«, sagte sie. »Die einzige Stelle im Koran, an der Jerusalem erwähnt wird.«
Ich muss wohl verwundert ausgesehen haben, denn sie sagte: »Ach, du kennst die Geschichte der Miraj nicht?«
»Mirage?«
»Nein, nein«, erwiderte sie lachend. »Miraj.« Das Wort klang in meinen Ohren immer noch wie Mirage, obwohl sie in ihrem Rachen etwas damit anstellte, wodurch es sich ein wenig anders anhörte. »Das ist die Nachtreise. Als Gott den Propheten Mohammed mitten in der Nacht auf dem Rücken eines geflügelten Pferdes von Mekka nach Jerusalem führte. Oder vielleicht war es auch ein geflügelter Esel. Wie du siehst, ist es eine Art Mischwesen, ein geflügeltes Tier mit menschlichem Gesicht.«
Sie klang, als gäbe sie eine Führung durchs Labor und würde ihre neuesten Experimente erklären. Machten sie hier so was – Pferde mit Eseln kreuzen, Adler mit Menschen, bis sie ein Tier geschaffen hatten, das der Kreatur auf dem Bild ähnelte? Das passte irgendwie nicht zu Vakuumröhren und Kraftfeldern.
»Was war das?«, fragte ich.
»Das? Was meinst du?«
»Ich dachte, ich hätte was gehört … von oben …«
Ein katzenartiges Jaulen, allerdings mit musikalischer Untermalung, falls so etwas möglich war.
Sie zuckte die Achseln. »In Jerusalem stieg er ab«, sagte sie, »und stand auf dem Felsen. Dort sah er eine Leiter. Er stieg bis in den Himmel empor …«
Ich warf einen Blick die Treppe hinauf. Dunkelheit. Plötzlich hörte ich von oben einen Schrei, fast schon ein Kreischen – »I gotta have yuh now or my heart will break!« – und einen Schwall schlechter Musik. Einen Refrain, irgendwas von wegen nicht zu jung sein, um zu heiraten. Irgendwo im oberen Flur wurde eine Tür geschlossen. Und dann wieder Stille.
»Tom«, sagte Rochelle. Sie nickte mir zu und fuhr fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben: »Er hat seinen Fußabdruck auf dem Felsen hinterlassen. Die Muslime sagen, man kann ihn immer noch sehen. Deshalb haben sie den Felsendom um den Stein herumgebaut, auf ebendem Berg, wo früher der jüdische Tempel gestanden hat.«
Früher … nun nicht mehr …
Jerusalem ist zerstört.
Wo hatte ich diese Worte schon gesehen?
Die Erinnerungen kamen zurück. An das sonnendurchflutete Schlafzimmer, im ersten Stock im Haus meiner Großmutter, wo meine Mutter lag und sich von ihrem Herzinfarkt erholte. Sie saß in ihre Kissen gelehnt. Ich saß neben ihr auf dem Bett. Ich hielt den jüdischen Kalender in der Hand, den ich aus der Küche mitgebracht hatte, damit sie ihn sich mit mir zusammen ansehen konnte.
JERUSALEM IST ZERSTÖRT.
Das war das Augustbild – ein düsteres Gemälde in Grau,
mit Mauern, Toren und Säulen, die zu Schutt verfielen. Schon mit fünf Jahren fand ich es schrecklich, nichts, worüber man nachsinnen wollte. Eilig ging ich zum nächsten Monat, zum nächsten Bild. JAKOBS TRAUM.
Mein kleiner Mund blieb offen stehen. Es war das gleiche Bild, wenn auch im Kalender eines anderen Jahres, das ich Jahre später im Archiv der Seltenen Bücher finden sollte. Eine endlose, gewundene Treppe, darüber ein Regenbogen. Geflügelte Engel wandelten auf goldenen Stufen auf und ab. Und ich war da – fünf Jahre alt, träumte mit Jakob. Sehnte mich danach, diese Treppe in den Himmel zu ersteigen.
Meine Mutter, in ihren Kissen, sah erst mich an, dann den Kalender. Und fing an zu schluchzen.
Ich werde es niemals diese vielen Stufen hinaufschaffen, sagte sie.
»Danny?«
Die ganze Zeit über hatte Rochelle geredet. Über den goldenen Felsendom, der nun an Stelle des Tempels stand, und dessen rote und grüne Teppiche und den großen, groben Fels in der Mitte. In diesem Fels befand sich
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