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Der Tag, an dem das UFO vom Himmel fiel

Der Tag, an dem das UFO vom Himmel fiel

Titel: Der Tag, an dem das UFO vom Himmel fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Halperin
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schlafen gehen wollen. Ihre großen Augen blicken starr ins Leere, stieren ins Nichts. Wo ist ihre Brille?
    Mein Vater fragt: »Hast du dir was gebrochen?«
    »Ich weiß nicht«, sagt sie. Und schluchzt laut auf.
    In diesem Zimmer, an diesem Nachmittag, hat sie geweint, als sie den »Me(g)hitabel«-Brief von Long Island las. Auch in der Küche weinte sie, als ich ihr den Brief vom Bibelwettbewerb gezeigt habe. Hinterher hat sie behauptet, es seien Freudentränen gewesen. Während des gesamten Abendessens hat sie still vor sich hin gebrütet. Über den Long-Island-Brief verlor sie kein Wort. Sie weiß nicht, dass ich darüber Bescheid weiß.
    Ich stehe in der Schlafzimmertür. Sollte ich hineingehen und versuchen zu helfen? Oder stehe ich nur im Weg? Keiner der beiden bemerkt mich. Das gelbe Licht der Nachttischlampe umfängt ihren liegenden Leib wie ein Scheinwerfer.

    Er nimmt sie bei den Schultern, hebt sie sanft aufs Bett. Da merkt er, dass die Decke noch nicht aufgeschlagen ist. »Setz dich einen Moment«, sagt er. Der kleine Stuhl neben dem Bett ist umgekippt. Er stellt ihn hin. Er hilft ihr auf den Stuhl, schlägt die Decke zurück und hilft ihr ins Bett.
    »Er ist umgefallen. Ich habe mich darauf gestützt, damit ich ins Bett gehen konnte, und er ist umgefallen. Ich stütze mich immer darauf, wenn ich ins Bett gehe, und wenn ich aufstehe auch. Er ist noch nie umgefallen!«
    Sie klingt hysterisch. Und zornig. Wieso hat der Stuhl sie verraten? Wird alles um sie herum ihr übel mitspielen, sie im Stich lassen? Ich spüre, wie das schlechte Gewissen an mir nagt, weil ich den Wettbewerb unbedingt gewinnen will, um diesen Sommer nicht hier sein zu müssen.
    Ich trete vor. Ich frage: »Kann ich helfen?«
    Niemand antwortet. Sie sehen mich nicht mal an. Vielleicht habe ich so leise gesprochen, dass sie mich nicht gehört haben. Da sehe ich ihre Brille – auf dem Boden, unversehrt. Vermutlich ist sie heruntergefallen, als meine Mutter gestürzt ist. Ich gehe hin und hebe sie auf.
    Sie liegt im Bett, bebend, schluchzend. Sie hat nicht versucht, sich zuzudecken. Ist wohl zu kraftlos, zu verängstigt. Er setzt sich neben sie. Sie nimmt seine Hand, hält sie fest. Er macht sich los. Dann nimmt er ihr Handgelenk, dünn wie ein Stöckchen, und hält es. Um ihren Puls zu messen?
    »Irgendwas gebrochen?«, sagt er.
    Tränen glitzern in ihren hohlen Augen. Noch immer halte ich ihre Brille in der Hand. Ich weiß nicht, ob ich sie ihr oder ihm oder niemandem reichen soll. Er drückt an verschiedenen Stellen ihres Körpers, um nachzusehen, wo sie sich gestoßen hat.
    »Hier tut es weh.« Sie zeigt auf ihren Oberschenkel.

    Er schiebt ihren Rock hoch. Am linken Bein ist eine große, hässliche Prellung, die bereits lila wird. Er tastet mit den Fingern daran herum, und sie stöhnt auf.
    Er sagt: »Ich glaube nicht, dass es gebrochen ist. Das wird schon wieder werden.«
    »Dad«, sage ich.
    Er dreht sich zu mir um. Er sieht mich mit einem seltsamen Blick an, nicht böse, fast zärtlich. Aber auch nicht wirklich liebevoll. Nur seltsam. Er nimmt mir die Brille aus der Hand und setzt sie ihr auf. Sie lacht.
    »Archy«, sagt sie.
    Sie lacht noch immer, obwohl Tränen über ihre Wangen laufen. In dem Lieblingsbuch der beiden war Archy Mehitabels Kakerlakenfreund. Ihr Schreiberling. Ihr Vertrauter. Was sie nicht daran hinderte, ihn hin und wieder fressen zu wollen.
    Ich weiß, dass meine Mutter den Long-Island-Brief meint. Seiner Miene nach zu urteilen, weiß mein Vater nichts davon. Offenbar hat sie ihm den Brief nicht gegeben. Er kann sich nicht erklären, wieso sie ihn Archy nennt. Ich verstehe es. Aber sie sieht mich nicht an.
    Doch ich sehe sie. Ihre geschwollenen Beine. Ihre faltigen, kraftlosen Arme. Ihren aufgeblähten Bauch – wie diese Bäuche nackter, ausgezehrter Kinder in den Nachrichten über afrikanische Hungersnöte. Ich denke: Sie hängt an einem seidenen Faden, und plötzlich weiß ich, was passieren wird. Ich sage mir: vielleicht auch nicht. Das schreckliche Gefühl – die Verzweiflung und die Trauer um sie, obwohl sie noch da ist, noch am Leben – vergeht nach einem Moment.
    »Leon. Bleibst du bei mir?«
    Er nickt. Zu mir sagt er: »Geh auf dein Zimmer. Ich komme gleich nach.«

    Zu mir sagt sie nichts. An der Tür blicke ich mich um. Er sitzt neben ihr am Bett, hält ihre Hand und singt:
    »We were sailing along on Moonlight Bay,
We could hear the voices singing, they seemed to say:
›You have stolen my

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