Der Tag, an dem das UFO vom Himmel fiel
zerschnitt wie ein Abgrund, und er konnte nirgendwo mehr hin. Er hatte in seinem Reiseführer darüber gelesen. Doch man begreift es erst, wenn man davorsteht.
Heute Abend wird er Jeff schreiben, ihm von diesem Ort erzählen. Er möchte am Beispiel Abu Tor vermitteln, was er mit noch so vielen Worten nicht sagen kann: wie es ist, wenn man das Gefühl
hat, dass die eigene Andersartigkeit einen von anderen trennt, dass sie einen behindert, hemmt. Er denkt, wenn Jeff es nur verstehen und akzeptieren würde, könnten sie vielleicht auch wieder Freunde werden …
Er schlug seinen Reiseführer auf, um sicherzugehen, dass er sich hier auch wirklich in Abu Tor befand, dass ihm kein Irrtum unterlaufen war. Er holte ein kleines Notizbuch aus seiner Tasche und schrieb und schrieb … während sich hinter ihm zwei dunkelhäutige israelische Jungen in seinem Alter – die ihm noch vor ein paar Minuten die billige Kamera um seinen Hals abkaufen wollten – gegenseitig anstießen, auf ihn deuteten und lachten.
… weil Jeff kein Interesse mehr an UFOs hat, und das Buch, das sie schreiben wollten, niemals geschrieben wird. Jeff und seine Freunde aus der Folkband erzählen sich auf dem Korridor, welche Songs sie gerade üben, zu welchen Auftritten sie am nächsten Wochenende fahren. Die Mission, die Wahrheit herauszufinden, die unter der dünnen Schale unserer Existenz liegt – Jeff hat sie aufgegeben. Das würde dieser Junge auch tun, wenn er denn die Wahl hätte.
Doch die hat er nicht.
Er hat diesen Weg vor langer Zeit gewählt. Jetzt ist er selbst der Weg. Auch wenn dieser in eine Sackgasse führen sollte, bis an eine Grenze, die er nicht überqueren kann, so muss er ihn dennoch gehen.
Deshalb ist er so müde.
Denn in diesem Sommer hatte er Flügel gehabt, mit denen er fliegen konnte. In gut zwei Wochen ist sein Sommer vorbei. Die Leute hier sind nicht so, wie er erwartet hatte. Sie sind warm und lebendig, dabei derb und roh, und alle sind Juden, aber wie sich herausstellt, ist das nicht der entscheidende Unterschied. Selbst hier spürt er die Mauern, die Grenzen, den Schmerz seiner Eigentümlichkeit.
Und seit er hier ist, hat er noch keinen einzigen Brief von seiner Mutter bekommen. Sein Vater deutet in seinen Briefen an, dass mit ihr etwas Schlimmes passiert, will aber nicht sagen, was es ist. Jetzt steht er vor einem Stacheldrahtzaun und späht in ein Land hinüber, das er niemals betreten kann …
Der Junge blickte auf, sah zu mir herüber.
Ich ließ mein Fernglas sinken und wandte mich ab.
KAPITEL 31
Rochelle führte mich zum Abendessen in ein Restaurant an der Salah-ed-Din-Straße. Der obere Raum war mit Teppichen ausgelegt, und Kissen umsäumten flache Tische. Uns blieb noch Zeit bis Mitternacht. Im Kerzenschein saßen wir auf den Kissen.
Ich lehnte mich beim Essen an die Wand. Sie lehnte sich an mich. Wir aßen Hummus mit Pita-Brot und Oliven und gebratenes Huhn auf Pita. Wir tranken Wasser aus Flaschen und später Tee. Es gab in diesem Restaurant auch Wein, aber wir wollten beide keinen.
»Du musst Julian von mir grüßen, wenn du ihn siehst«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wann und wo das sein wird, aber du darfst auf keinen Fall vergessen, ihm zu sagen, dass seine alte Freundin Rachel an ihn denkt.«
Woher soll er wissen, dass das du bist?, wollte ich fragen. Doch sie dippte ein Stück Pita in den Hummus und führte es an meine Lippen. Ich machte den Mund auf, und sie fütterte mich.
»Falls er noch lebt«, sagte ich, als ich hinuntergeschluckt hatte.
»Oh, er lebt. Ich weiß nicht, wo er ist, aber er lebt. Julian ist
nicht so leicht umzubringen. Sie haben es versucht, mehr als einmal.«
Man brachte das Dessert.
»Sie wird leben«, sagte Rochelle.
»Ich hoffe es«, erwiderte ich. Das Dessert war süß und schwer, irgendwas mit Honig. Ich wusste nicht, wie man es nannte. Ich ging nicht davon aus, dass ich es je wieder kosten würde.
»Sie wird leben«, betonte Rochelle. »Und sie wird wachsen. Und wenn sie ausgewachsen ist, wird sie tun, wozu sie hergeschickt wurde. Dann werden wir beide wieder zusammen sein. Und weißt du, was wir dann tun?«
»Was?«, fragte ich.
»Wir fahren zu der alten Farm, gehen rauf in den ersten Stock und machen Liebe. Echte Liebe. Auf dem Boden, auf diesem dünnen Teppich. Genau so wie ich es wollte, am ersten Abend, als wir uns begegnet sind.«
Draußen empfing uns Jameela. Sie legte mir mein Baby in den Arm. Jedes Mal, wenn ich die Kleine nahm, staunte
Weitere Kostenlose Bücher