Der Tag an dem ich erwachte
weg.
„Soll ich mitkommen?“, schlug Ava halbherzig vor.
„Nein, ist schon gut. Amüsiere dich!“ Ich täts chelte ermunternd ihre errötete Wange, verabschiedete mich und ging. Kurz, bevor ich die Tür hinter mir schließen konnte, fühlte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter, zuckte erschrocken zusammen und drehte mich um. Und dann sah ich in diese unglaublichen Augen, die den ganzen Abend lang meinem Blick gekonnt auswichen. In seine Augen. Er steckte mir seine Visitenkarte zu und flüsterte: „Ruf mich an!“.
In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Es war nicht das erste Mal, dass ein heterosexueller Mann Interesse an mir zeigte. Oft waren es heimliche Homosexuelle, die eine leidenschaftslose Scheinehe mit einer Frau führten. Ich nannte sie verächtlich „Undercover Tunten“. Doch meistens waren es Männer, die einfach nur eine neue Erfahrung machen wollten. Sie waren neugierig darauf, zu erfahren, wie es mit einem Mann war, und ich zeigte es ihnen nur allzu gerne. Es waren kurze, unverbindliche Zusammenkünfte, die ich zwar stets genoss… Dennoch blieb ich danach immer mit einer inneren Leere zurück, die mich zunehmend frustrierte. Sehnte ich mich etwa nach der wahren Liebe, fragte ich mich insgeheim, bevor ich mich bequemeren, ungefährlicheren Gedanken zuwandte. Einem jungen Schwulen in einem kleinen Kaff wie unserem, der sich nach wahrer Liebe sehnte, blühte keine schöne Zukunft, dessen war ich mir schmerzlich bewusst. Nicht einmal mit Ava sprach ich über diese Sehnsüchte, und sie sah davon ab, mich darauf anzusprechen. Weil sie instinktiv ahnte, dass ich nicht über dieses Thema sprechen wollte. Doch bei diesem Mann war es anders. Das Gefühl, das er in mir weckte, konnte ich nicht in Worte fassen, egal, wie sehr ich mich anstrengte, während ich mich unruhig in meinem Bett hin und her drehte und an ihn dachte. An seinen großen, muskulösen Körper, den er für sein Alter ungewöhnlich fit hielt. An seine volle, mit grauen Strähnen veredelte Haarmähne, die sein schönes, markantes Gesicht umrahmte. An die Fältchen, die seine samtigen Augen umrandeten, wie ein feines Spinnennetz… Sie machten ihn noch attraktiver, fand ich und fühlte mich so erregt wie noch nie zuvor. Ich schaltete das Licht meiner Nachtleuchte ein, holte seine Visitenkarte aus meiner Hosentasche heraus und las seinen Namen. Ließ ihn mir genüsslich auf der Zunge zergehen: „Greg Grantham“. Wiederholte ihn immer und immer wieder, bis er sich in ein beruhigendes Schlaflied verwandelte, das meinen Atem wieder ruhig gehen ließ und meine Augenlider schwer machte. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war dieser Name das erste, woran ich dachte. Dennoch rief ich ihn nicht an. Nicht am nächsten Tag, und auch nicht am übernächsten. Seine Visitenkarte in meiner Tasche brannte wie Feuer, ließ mein Herz wild klopfen und bereitete mir schlaflose Nächte. Derweil bandelte Ava mit Stanley an. Erst, als sie sich in ihn verliebte (endgültig verliebte!), eröffnete er ihr, dass er ein berühmter Filmproduzent war. Und verriet ihr seinen richtigen Nachnamen, bevor er ihren Lebenstraum wahr machte und ihr die Hauptrolle in seinem neuen Film anbot. Sie in seinem Hotelzimmer vernaschte und feststellte, dass sie (oh, welch ein Wunder!) noch Jungfrau war. Daraufhin machte er ihr prompt einen Heiratsantrag, dem sie sofort zustimmte. Es war ein perfektes Hollywoodmärchen, das plötzlich Wirklichkeit wurde. Weder Ava noch ich wussten wie uns geschah, als wir gemeinsam ihre Koffer packten. Auch Tante Abigail konnte kaum glauben, was ihrer Tochter gerade passierte. Erst, als Ava in der Kirche unseres Kaffs „Ja, ich will!“, sagte, brach sie in Tränen des Glücks aus und legte ihren Kopf auf meine Schulter, bevor sie mich in ihrer Umarmung erdrückte. Ich schloss meine Arme um ihren dürren Körper und atmete ihren vertrauten Duft ein: Ein leichter Hauch von Schweiß, der mich an meine eigene Mutter erinnerte, die nicht zur Hochzeit erschien, weil sie sich zu dem Zeitpunkt in stationärer medizinischer Behandlung befand. (Man hatte sie bewusstlos am Straßenrand aufgelesen und lieferte sie ins Krankenhaus ein.) Und einen Hauch nach billigem Parfüm. Sie roch aber auch nach etwas, was ihr Wesen grundsätzlich von dem meiner Mutter unterschied, nahm ich überrascht wahr: Sie roch nach aufrichtiger Mutterliebe und Hoffnung.
„David, bist du dir sicher, dass du nicht mitkommen willst?“, fragte Ava besorgt und traurig, bevor
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