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Der Tag an dem ich erwachte

Der Tag an dem ich erwachte

Titel: Der Tag an dem ich erwachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilia Miller
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sie mit ihr em frischgebackenen Gatten fortging. „Du weißt doch, dass du bei uns immer herzlich willkommen bist?“
    „Mach dir keine Sorgen um mich, Süße!“, küsste ich sie auf die Wange. „Ich komme schon klar“, versicherte ich ihr, während ich mit den Tränen kämpfte. Schließlich stieg das glücklic he, frisch vermählte Paar in das Taxi, das sie zum Flughafen fuhr. In ein neues Leben, weit weg von diesem trostlosen Kaff. Weit weg von mir und meiner tiefen Verzweiflung.
    Als Ava abgereist war, fühlte ich mich genauso einsam und hoffnungslos wie damals, als Tante Grace wegging. Ich stand jeden Morgen auf, ging zur Arbeit, kam wieder nach Hause, half Tante Abigail im Haushalt. Hörte ihr mit einem abwesenden Lächeln zu, als sie mir von Avas erfreulichen Neuigkeiten erzählte. Ging ins Bett und fiel in einen tiefen Schlaf voller unruhiger Träume, die allesamt von dem faszinierenden, geheimnisvollen Mann namens Greg Grantham handelten. Nein, ich werde ihn nicht anrufen, dachte ich, während ich mich in meinem Bett wälzte wie ein tollwütiges, liebeskrankes Tier. Egal, wie sehr ich mich danach verzehrte, seine schöne, tiefe Stimme zu hören, hätte ich mich nie getraut, seine Nummer zu wählen. Dessen war ich mir so sicher wie der Tatsache, dass ich David Lewis hieß. Schon bald sollte ich feststellen, dass die Tatsachen, die man als sicher und unveränderlich empfand, sich schnell in etwas Neues verwandeln konnten. In etwas, womit man nie gerechnet hätte.
    Eines Tages weckte mich Avas Mutter.
    „Was ist los?“, fragte ich verschlafen und verärgert: An diesem Tag hatte ich Frühschicht, und als ich auf die Uhr sah, stellte ich fest, dass mir nur noch eine Stunde Schlaf blieb, bevor ich aufstehen musste. „Verdammt, wieso weckst du mich so früh?“, fuhr ich Tante Abigail an und wurde immer wütender, als sie mir keine Antwort gab. Seitdem Ava wegging, diente ich ihr als Ersatz für sie, und langsam fing es an, mir gewaltig auf die Nerven zu gehen. Wenngleich ich Avas Mutter zu einem tiefen Dank verpflichtet war, erdrückte sie mich mit ihrer plötzlich auf mich projizierten Mutterliebe so sehr, dass ich kaum noch Luft zum Atmen hatte. Gleichzeitig fühlte ich mich einfach nur leer, so leer und nutzlos wie eine ausgelutschte Zitrone. Ich spielte immer öfter mit dem Gedanken an einen Selbstmord, bis ich mich schließlich nicht mehr danach fragte, ob ich es tun sollte, sondern nur wie . Es sollte möglichst schnell gehen, entschied ich mich nach langem Überlegen, schnell und schmerzlos. Und unspektakulär. Ganz unauffällig. Schlaftabletten und Whiskey. Dann würde ich Tante Grace wiedersehen, falls es ein Leben nach dem Tod gab. Falls nicht, würde ich einfach nur friedlich schlafen, ein für alle Mal. Mein Entschluss stand fest, dennoch verschob ich es jeden Tag auf den nächsten, endlich die Nägel mit Köpfen zu machen.
    „David, es tut mir so leid“, stammelte Tante Abigail verlegen. Erst jetzt fiel mir auf, dass ihr Gesicht verweint war, sie schniefte und trocknete sich die Tränen ab, um wieder neuen Tränen freien Lauf zu lassen. Ich wurde augenblicklich hellwach und sprang vom Bett auf.
    „Ist etwas mit Ava?“, fragte ich atemlos, während mein Herz ängstlich pochte.
    „Nein, mein Schatz, Ava geht es gut“, sagte sie leise, und ich atmete beruhigt auf. Der Schock saß noch so tief, dass ich ihren nächsten Satz kaum wahrnahm. „David, deine Mutter ist tot.“ Sie umarmte mich fest und schluchzte laut, ihre Tränen schmeckten salzig auf meinen Lippen, bevor sie meinen Hals und meine nackten Schultern benetzten. Ich erwiderte automatisch ihre Umarmung und fühlte mich wie betäubt. Horchte in mich hinein und stellte mit Entsetzen fest, dass ich keinerlei Trauer empfand. Vielmehr fühlte ich mich… Erleichtert? Ja. Ich war erleichtert über die Tatsache, dass es nicht Ava, sondern meine Mutter war. Um Gottes willen, was war ich nur für ein Sohn, was war ich nur für ein Mensch? Gleichzeitig spürte ich eine Wut, die sich wie die bittere Galle in mir ausbreitete. Was war sie denn für eine Mutter? Was hatte sie mir angetan, dass ich nicht einmal dazu fähig war, um ihren Verlust zu trauern? Ich rief mir in Erinnerung, wie oft ich ihren Tod herbeigesehnt hatte. Nun war es soweit, und ich fühlte rein gar nichts.
    „Wie ist es passiert?“, fragte ich tonlos. Sie interpretierte meine Tonlosigkeit und meine erstarrte Körperhaltung falsch.
    „Weine ruhig, Schatz, lass es raus!“,

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