Der Tag, an dem John Dillinger starb
in Reichweite seiner Stiefelspitze geriet.
»Er kann nur eines – treten«, erklärte Hernandez dem alten Amerikaner.
Fallon wälzte sich von dem Indio weg, wodurch er dem Ser geanten näherrückte.
Hernandez beugte sich zu ihm hinunter. »Sie hören jetzt auf, sich dumm zu stellen, nicht wahr?« flüsterte er. »Sie versuchen sogar, vernünftig zu sein, nicht wahr? Das stimmt doch?«
»Klar«, murmelte Fallon heiser.
Die Zellentür ging auf. Rivera kam herein. Er blickte auf Fallon herab.
»Señor Rivera hat Ihnen einige Fragen zu stellen«, fuhr Her nandez fort. »Sie beantworten sie gefälligst. Kapiert?«
»Ja«, ächzte Fallon.
»Ausgezeichnet!« Rivera setzte sich auf die Pritsche, nach
dem Hernandez eilfertig aufgesprungen war. »Fangen wir noch mal von vorn an. Wer ist dieser Harry Jordan?«
Eine leichte Brise bewegte die Kante der schmuddeligen Spitzengardinen in Dillingers Hotelzimmer. In dem Raum herrschte die eigentümlich verwahrloste Atmosphäre, die Zimmer in drittklassigen Hotels in aller Welt gemeinsam haben. Man hätte glauben können, hier habe noch nie jemand wirklich gelebt.
Dillinger, der auf dem Bett lag, hörte die große Glocke der Kirche schlagen; sie erinnerte ihn an Sonntagvormittage in Indiana, als er zwölf gewesen war. Er hatte seine Kinderbande – lauter Gleichaltrige – zur Bekohlungsanlage der Pennsylva nia-Eisenbahn geführt, wo sie Kohlebrocken geklaut hatten, um sie Hausfrauen in der Stadt zu verkaufen. Er erinnerte sich an die schönen Stunden in Gebhardts Billardsalon und die noch schöneren beim Baseball. Er hatte leidenschaftlich gern Base ball gespielt, weil das zwei Spiele zur gleichen Zeit gewesen waren: eines, bei dem man die gegnerische Mannschaft schlug, und ein anderes, bei dem man von den Mädchen beobachtet wurde, die sich nach jedem Spiel auf die besten Spieler stürz ten. Einige der älteren Mädchen hatten tolle Figuren gehabt – nicht wie diese Mexikanerinnen. Großer Gott, wurde er schon jetzt heimwehkrank?
Er mußte hier aushaken, bis die erste Aufregung abgeklungen war. Er mußte stahlhart sein – wie damals, als er die Kraft gefunden hatte, sich im Gefängnis die Ferse mit Säure zu verätzen, um krank geschrieben zu werden. Sie waren ihm neun Jahre schuldig! Er dachte daran, wie herrlich das Gefühl bei diesem ersten Ausbruch gewesen war. Frei wie ein Vogel! Nein, er würde sich nie mehr verhaften und einsperren lassen. Lieber wollte er …
Ein Klopfen ließ Dillinger aus seinen Gedanken aufschrek ken. Er konnte nur hoffen, daß das der Page war, der das Mineralwasser brachte, das er schon vor über einer Stunde bestellt hatte. Großer Gott, wie langsam hierzulande alles ging!
»Herein!« rief er. »Die Tür ist offen.«
Statt des erwarteten Pagen erschien jedoch ein kleiner, drahti
ger Uniformierter mit pockennarbigem Gesicht.
»Polizei, Señor«, sagte der Pockennarbige. »Ich bin Sergeant Hernandez. Darf ich Ihren Reisepaß sehen?«
Dillinger starrte automatisch zur Kommode hinüber, auf der seine Colt-Pistole in ihrem Halfter lag. Der Sergeant folgte seinem Blick mit den Augen.
John Dillinger nahm die Füße vom Bett, stand auf, nahm seine Jacke vom Stuhl, zog den auf den Namen Harry Jordan ausgestellten Reisepaß aus der Innentasche und gab ihn Her nandez, der ihn mit ausdrucksloser Miene Seite für Seite durchblätterte.
»Wieviel haben Sie für diesen Paß bezahlt, Señor Jordan?« fragte Hernandez schließlich.
»Die übliche Gebühr«, behauptete Dillinger.
»Tut mir leid, aber ich muß Sie bitten, mich aufs Revier zu begleiten, Señor.«
»Wollen Sie mir nicht wenigstens erklären, was dieser ganze Unsinn soll?«
Hernandez richtete sich auf und hatte plötzlich seinen Revol ver in der Hand. »Seien Sie bitte vernünftig, Señor. Kein Aufsehen, wenn ich bitten darf. Wir müssen schließlich an den guten Ruf des Hotels denken.« Er zog Dillingers Pistole aus dem Halfter und steckte sie ein. »Wir können mit meinem Wagen fahren oder mein Fahrer folgt uns mit Ihrem Kabriolett, falls Sie Ihr schönes Auto nicht unbewacht auf der Straße vor dem Hotel stehenlassen wollen. Der Mann, der es bewacht hat, bewacht es nämlich nicht mehr, weil er im Gefängnis sitzt. Er möchte wie Sie, Mr. Dillinger, nicht den federalistas auf Ihrer Seite der Grenze übergeben werden.«
4
Auf dem Hof exerzierte ein Trupp mexikanischer Kavalleri sten. Dillinger, der Hernandez
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