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Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte

Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte

Titel: Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Steen
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als er sie mit krächzender Stimme fragte, warum sie weine, wurden sie noch nasser.
    Er wollte so gern mit den Fingern durch ihre Haare fahren, ihr Gesicht streicheln und ihre Tränen wegküssen, aber er konnte sich immer noch nicht rühren. Also bewegte er nur zwei Finger auf der Bettdecke, bis sie seine Hand ergriff und sich wie eine Ertrinkende daran festklammerte.
    Da wurde ihm schlagartig bewusst, dass es tatsächlich geschehen war, dass Claudi vor Stunden, Tagen oder Ewigkeiten Gott gespielt hatte und dass jetzt ein Teil von ihr in ihm war.
    Und noch etwas wurde ihm klar: dass sie von einer Horde sadistischer Kannibalen auf dem OP-Tisch festgeschnallt worden war, und dass die mit Händen und chirurgischen Instrumenten in sie eingedrungen war, um einen Teil ihres Gewebes zu entnehmen und bei ihm einzubetten und zu vernähen.
    Und er hatte es zugelassen.
    Da war jetzt etwas Neues und Unbekanntes und gleichzeitig etwas Altes und Vertrautes in ihm, und es war genauso von ihm abhängig wie er von ihm.
    Er versuchte, Verbindung zu dem Teil aufzunehmen. Wenn wir die Sache hier lebend überstehen wollen, müssen wir an einem Strang ziehen, dachte er. Wir müssen zusammenhalten, du liebes, unendlich kostbares Claudi-Dingsbums.
    Als Letztes wurde ihm klar, dass Claudi nicht hier sein dürfte, sondern selbst ins Bett gehörte, am besten an seine Seite …
    Du hättest nicht herkommen sollen, dachte er verzweifelt. Mach das nie wieder, hörst du? Nie in deinem ganzen Leben. Versprich es mir.
    Er wollte aufstehen, den Platz mit ihr tauschen, sie streicheln, trösten, ihr über das Haar fahren, sie beschützen … Aber er konnte sich nicht bewegen, und dann fiel er auch wieder in diese tiefe Dunkelheit zurück.
    Irgendwo im Nirgendwo: Der Schmerz durchrollte ihn wie ein Lavastrom, und er begehrte von früh bis spät dagegen auf. Vergeblich. Die grün Vermummten pumpten ihn mit Opiaten voll, und wenn er dann vollgedröhnt vor sich hin dämmerte, behaupteten sie, dass es ihm wieder besser gehen würde. Aber das stimmte nicht. Die Schmerzen tobten weiter mit ungebrochener Kraft durch seine Eingeweide hindurch. Er konnte es nur nicht mehr artikulieren, weil das Zeug ihn vollkommen knock-out haute.
    Erleichterung empfand er nur, wenn Claudi neben seinem Bett saß. Ihre Stimme war so sanft und liebevoll, dass er sich jedes Mal beruhigte, sobald er ihren Klang vernahm. Dann lag er still da, die Arme entspannt auf beiden Seiten des Körpers liegend, atmete so gut es ging in den Schmerz hinein und gab sich seinen akustischen und visuellen Tagträumen hin. Die waren so bunt, so überwältigend, so intensiv …
    Hieß es deswegen Intensivstation?
    Hin und wieder schlug ein Arzt mit Koteletten und Pferdeschwanz seine Bettdecke zurück, zog mit geschickten Fingern die Pflasterstreifen und den Verbandsmull ab und begutachtete die Triangelnarbe auf seinem reparierten Bauch. Irgendwann wollte René selbst sehen, wie er da unten aussah. Also nahm er all seinen Mut und seine ganze Kraft zusammen, hob das Kinn und riskierte einen Blick nach unten. Seine Vorderseite war zum Schlachtfeld verkommen, und die Narbe selbst … Das Ding sah total ätzend aus, denn es war mit zahlreichen Metallclips zusammengetackert worden und hatte einen verkrusteten, wulstig aufgeworfenen Rand.
    Aber der Arzt mit den Koteletten überschlug sich fast vor Begeisterung und ließ in der Beziehung auch keine zwei Meinungen gelten.
    „Sieht spitze aus“, sagte er, kniff wie ein Bildhauer die Augen zusammen und drückte mit seinen Kautschukfingern an der 3D-Skultur herum. „Durchblutung, Wundheilung, Drainage … Funktioniert alles hervorragend. Genau so haben wir uns das vorgestellt, Doktor Sommerfeldt. Ruhen Sie sich aus und denken Sie nicht an die Zukunft. Alles läuft prima.“
    Dann kam der Tag, an dem René stark sein wollte, denn nur die Starken überleben.
    Also konzentrierte er sich auf seinen rechten Unterarm. Erstaunlicherweise gelang es ihm tatsächlich, ihn hochzuhieven, einen Augenblick in der Luft zu halten und dann ein Stück weiter oben auf seinen Brustkorb fallenzulassen. Die Anstrengung brachte ihn fast um, er stöhnte wie ein Schwergewichtsheber beim Weltrekordversuch, aber er war erfolgreich. Also probierte er es gleich noch mal: konzentrieren, fokussieren, und dann … rums, wieder geschafft.
    Da kamen ihm vor Rührung fast die Tränen. Sein Leben war zwar keinen Pfifferling mehr wert, aber vor seinem Ende hatte er es immerhin noch mal geschafft,

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