Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
seinen Arm von einer Stelle auf die andere zu bewegen.
Das war auch der Tag, an dem er sich zum ersten Mal näher mit seinem Umfeld und den Menschen darin befasste. Bisher hatte er nur Rhabarberrasülz verstanden, wenn die grün vermummten Frauen im Raum hin und her eilten und miteinander sprachen. Jetzt formten sich seine Eindrücke allmählich zu erkennbaren Handlungen und vernünftigen Worten und Sätzen zusammen.
„Die erste Zeit müssen Sie einfach nur durchstehen“, sagte eine der Frauen zu René, kniff ihm liebevoll in die Wange und bugsierte ihn dann auf die Bettpfanne.
Irgendwann durfte er die Intensivstation schließlich verlassen und wurde in ein Isolierzimmer verlegt. Aber auch hier musste sich jeder, der den Raum betreten wollte, vorher in Schutzkleidung hüllen, denn Pilze, Bakterien, Viren und überhaupt alle Gefahren, die das Leben zu einem Glücksspiel machten, hätten in dieser Phase seinen sicheren Tod bedeutet.
Bei den Visiten gab sich der Oberarzt gewohnt euphorisch, und sein vermummtes Gefolge nickte dazu anerkennend und gehorsam.
Aber in Wahrheit ging das Elend für René weiter.
Jetzt musste er sich jeden Morgen, auf der Bettkante sitzend, selbst waschen, und das war eine entsetzliche Tortur. Manchmal sollte er auch ein paar Schritte im Zimmer gehen. Dann war er so scheißwackelig auf den Beinen, dass er fast zusammenbrach. Außerdem fror er wie ein Biber, sodass jeder Gang zum Klo zu einer Polarexpedition wurde. Irgendwann kamen noch fürchterliche Rücken- und Schulterschmerzen hinzu, denn die ständige Liegerei machte ihm zu schaffen. Er litt unter Durst und Atemnot und, wenn er seinen grauen pappigen Brei gegessen hatte, auch noch unter Sodbrennen im Magen und in der Speiseröhre. Seine Rülpser klangen wie Urlaute aus der Frühzeit der Menschwerdung. Zudem blubberte und gurgelte sein Darm und sonderte Gerüche ab, die einen wilden Eber in die Flucht geschlagen hätten. Zwischendurch fanden allerhand Untersuchungen satt, die ihn fast umbrachten. Er bekam jetzt Immunsuppressiva, lauter bunte Kaventsmänner von Pillen, die er nur schlecht vertrug und trotzdem bis ans Lebensende nehmen musste. Außerdem gab es jede Menge Formulare auszufüllen. Er sollte einen Behindertenausweis bekommen, die Reha musste beantragt werden, es gab Theater mit der Kranken- und Rentenversicherung … Und dann musste er in der Ergotherapie auch noch alberne kleine Figuren aus Papierstreifen basteln. Das hasste er fast am meisten.
Aber es gab auch ein paar seltene Lichtblicke, zum Beispiel, wenn Claudi zu Besuch kam und sie gemeinsam per Webcam mit Mia herumschäkerten. Mehr war leider noch nicht drin, denn Kleinkinder, Blumensträuße und überhaupt alles Frische, Junge, Lebendige und Schöne durften nicht in sein Krankenzimmer.
Einmal brachte Claudi die Urkunde mit, die sie bei ihrer Entlassung bekommen hatte.
Auf der Vorderseite prangte ein Gruppenfoto von dem jungen Tischler und dem restlichen OP-Team. Sie hielten mit lachenden Augen und freudig hochgerissenen Armen Claudis herausoperierte Leberhälfte in die Kamera, als wäre sie ein frisch abgenabelter Säugling oder ein Martini on the rocks .
Auf der Rückseite stand:
„Unser ausdrücklicher Dank gebührt Frau Claudia Sommerfeldt für die Bereitschaft zur Spende eines Lebersegments an Herrn Dr. René Sommerfeldt. Dieser großherzige Akt gelebter Nächstenliebe und Menschlichkeit verdient unsere besondere Anerkennung.“
Es folgten Ort und Datum und fünf unleserliche Unterschriften. Eigentlich hätte Claudi auch noch einen Orden verdient, aber der war ihr aus was für Gründen auch immer nicht verliehen worden.
Als René das Dokument in Augenschein nahm, wusste er zunächst nicht, ob er sie dazu beglückwünschen oder sie eher dafür bedauern sollte. Doch dann beschloss er, es mit Humor zu nehmen. Er hätte auch gern gelacht, aber das war wegen der Erschütterungen im Bauch nicht möglich. Also schmunzelte er nur über das Schriftstück.
Ebenso gut hätte er auch darüber weinen können.
In der nächsten Zeit musste er weiter mit tausend Problemen kämpfen, aber wenigstens war er jetzt so weit wiederhergestellt, dass er seine wichtigsten Vorsätze für die Zukunft ins Auge fassen konnte.
Er wollte mit Claudi zusammen sein.
Er wollte Mia aufwachsen sehen.
Er wollte seine Löffelliste abarbeiten.
Diese Ziele oder besser gesagt: diese Träume boten einen Taumel an Möglichkeiten, und er würde fortan alles tun und alles aushalten, um sie
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