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Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition)

Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition)

Titel: Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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begann Lugoli, nachdem Chatel geschworen hatte, die Wahrheit zu sagen, und nichts als die Wahrheit, »daß das Messer nicht vergiftet sei. Ist das wahr?«
    »Es ist wahr. Es ist ein Messer, mit dem man in meinem Vaterhaus Fleisch schneidet. Ich habe es von der Anrichte genommen und im Ärmel meines Wamses, zwischen Hemd und Haut, versteckt.«
    »Wo wolltest du den König treffen?«
    »In die Kehle.«
    »Warum?«
    »Weil der König wegen der Kälte dick bekleidet sein würde, dachte ich, und wenn ich in seinen Leib zielte, würde das Messer abprallen.«
    »Hattest du den König vor heute abend schon einmal gesehen?«
    »Nein. Aber ich befand mich bei seiner Rückkehr von der Picardie in der Rue de l’Autruche, und als das Volk auf der Straße schrie: ›Es lebe der König!‹, fragte ich einen Mann, welcher von den hohen Herren der König sei, und er sagte, es sei der mit den Pelzhandschuhen. Dann bin ich ihm in den Louvre gefolgt.«
    »Ohne daß dir jemand den Eintritt verwehrte?«
    »Niemand. Das Tor stand weit offen, und das Gedränge war groß.«
    »Wie kommt es, daß du einen Menschen töten wolltest, den du nie vorher gesehen hast?«
    »Ich hatte keine andere Wahl. Ich war überzeugt, daß ich als der Antichrist verdammt würde, wenn ich es nicht täte.«
    »Wieso das?« fragte Lugoli, und auf seinem freimütigen Gesicht malte sich heftigste Verblüffung.
    Hierauf schwieg Jean Chatel lange, und weil Lugoli geduldig auf die Antwort wartete, ohne ihn irgend anzuherrschen oder auf andere Weise zu zwingen, konnte ich den glücklichen Jungen in Muße betrachten, und als ich seine erschrockenen Rehaugen zwischen den Lidern rollen sah, seine fiebrigen Lippen, seinen vor jähem Entsetzen schlotternden Körper, sagte ich mir, daß er wohl ein von unendlichen Ängsten getriebenes, gehetztes, schwermütiges kleines Wesen sei, das bei jedem Windchen wie Espenlaub zitterte.
    »Rede, Sohn«, sagte Lugoli milde.
    »Herr Vogt«, sagte Jean Chatel mit tonloser Stimme und indem er mit verzweifelter Miene zu Boden starrte, »es ist so, daß ich einige abscheuliche und widernatürliche Sünden begangen habe. Und das Schlimmste ist, ich habe sie vor meinem Beichtvater geleugnet. So daß ich durch Beichte und Kommunion noch ebensoviel tödliche Schuld auf mich lud, ich bin ganz sicherlich verdammt.«
    »Aber inwiefern betrifft das den König?«
    »Insofern, als mir in meiner Verzweiflung darüber, daß ich verdammt bin, der Einfall kam, eine große Tat zu tun, welche der Heiligen Katholischen Kirche von großem Nutzen wäre. Ich dachte, daß ich im Jenseits schwerer büßen müßte, wenn ich stürbe, ohne den König zu töten, aber daß ich weniger gestraft würde, wenn ich versuchte, ihm das Leben zu nehmen. Ich meinte in der Tat, die geringere Strafe wäre eine Art Heil im Vergleich zu der schwereren.«
    »Das ist mir eine ganz neue Theologie«, sagte Lugoli. »Wo hast du die her?«
    »Ich habe sie aus der Philosophie gewonnen«, sagte Chatel mit stiller Überzeugung.
    »Und wo hast du diese Philosophie gelernt?«
    »Im Collège de Clermont, bei Pater Guéret.«
    Hier wechselten Lugoli und ich scharfe Blicke, und Lugoli legte eine Pause ein, damit der Schreiber diese bemerkenswerte Antwort in Gänze niederschreiben könne. Inzwischen näherte ich mich Lugoli und riet ihm, Chatel zu fragen, ob er im Collège de Clermont einmal in die Kammer der Meditation eingesperrt worden sei. Was dieser heftig zitternd bejahte.
    »Ich habe dort vielerlei Teufel gesehen, in immer anderen schrecklichen Gestalten, sie drohten mich zu ergreifen und fortzuschleppen.«
    »Wie kam es, daß du so oft dort eingesperrt wurdest?«
    »Ich hatte, wie gesagt, abscheuliche und widernatürliche Sünden begangen und sie in der Beichte gleichwohl geleugnet.«
    »Welche Sünden?«
    »Schwulität und Inzest«, sagte Chatel mit stockender Stimme, und Tränen rannen ihm übers Gesicht. »Aber den Inzest nur in der Absicht.«
    »Mit wem?«
    »Mit meiner Schwester.«
    »Ist dir der Gedanke, den König zu töten, in der Kammer der Meditation gekommen?«
    »Das weiß ich nicht. Zum Denken war ich viel zu entsetzt.«
    »Was hat dich letztlich bestimmt«, fragte Lugoli, »den König töten zu wollen?«
    »Ich hörte an mehreren Orten als wahrhaftige Maxime, es sei löblich, den König zu töten, weil er ein Ketzer sei, ein rückfälligerund fälschlich bekehrter Ketzer, der exkommuniziert worden ist.«
    »Sind solche Vorsätze, den König zu töten, bei den Jesuiten

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