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Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition)

Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition)

Titel: Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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ermangeln.«
    »Señor Marqués«, sagte Fernando, der sein Tier am Zügel hielt und ihm mit seiner hageren Hand das Maul tätschelte, »beliebt mich zu entschuldigen, wenn ich später zu Tisch erscheine,ich habe erst noch im Dorf zu tun. Don Luis wird Euch Gesellschaft leisten.«
    Und da ich mich zu höflicher Antwort umwandte, frappierte mich seine Ähnlichkeit mit seinem Pferd, nur daß er hohle Wangen hatte. Überhaupt war dieser Herr ein sehr magerer und engbrüstiger Edelmann auf langen Stelzenbeinen.
    Als reichlich mager erwies sich auch der Imbiß, doch ließen wir Tischgefährten – Don Luis, Fogacer, La Surie und ich – es uns trotzdem nicht verdrießen.
    »Ich hörte von Don Fernando«, sagte ich, eine Scheibe Schinken kauend, der mich hart und dürr wie diese Ebene dünkte, »daß der Escorial, den ich für einen Palast hielt, vor allem ein Kloster sei.«
    »Oh, nein«, sagte Don Luis im Ton gespielter Feierlichkeit, »der Escorial ist in Wahrheit eine Gruft.«
    Wir sahen ihn mit offenen Mündern an.
    »Eine Gruft, die Felipe erbauen ließ für seinen Vater, für sich und die königliche Familie. Die Mönche sind nur dazu da, den königlichen Leichnamen auf Jahrhunderte hin die Messe zu lesen und ihnen mittels der Kraft ihrer Gebete dereinst den Himmel zu öffnen.«
    »Aber Felipe residiert doch zur Sommerzeit im Escorial«, sagte ich.
    »Gewiß«, sagte Don Luis. »Felipe ist der erste König auf der Welt, der sich eine Gruft zur Sommerresidenz gemacht hat: So etwas fiel nicht einmal den Pharaonen ein. Groß ist der Escorial allerdings, die Längsseiten messen über hundert Klafter.«
    Es war, wie Don Fernando prophezeit hatte: Je näher wir der Sierra de Guadarrama kamen, deren düstere Berge unseren Horizont begrenzten, verlor der scharfe Nordwind, der bisher mit solcher Gewalt über die Ebene gebraust war, der den Staub zu Wolken aufgewirbelt und die spärlichen Grashalme und Büsche zu seiten des Weges niedergedrückt hatte, mehr und mehr an Kraft, und als ich in dieser Windstille nun an einer Wegbiege vor einem steilen Abgrund innehielt, erblickte ich jäh den Escorial, und was ich aus dieser Entfernung von ihm sah, machte mich starr und raubte mir fast die Sinne.
    Bislang hatte man mir von diesem Schloß mehr gesprochen als von Felipe II., so als wäre der Panzer wichtiger als die dazugehörige Schildkröte. Was vielleicht nicht falsch war. Auch gabes für mich keinen Zweifel, daß alles, was man mir gesagt hatte, zutraf. Daß der Escorial alles in einem war, Kloster, Königsgruft und Sommerschloß, glaubte ich gern. Aber niemand hatte auch nur mit einem Ton das Wesentliche dessen erwähnt, was mir da vor Augen erschien: seine überwältigende Schönheit.
    Um es noch einmal zu sagen, was mich aus dieser Entfernung und in dem hellen Morgenlicht überwältigte, das waren zugleich die kolossalen Maße dieses Schlosses und die makellose Weiße, in welcher er sich vor den schwarzen Bergen des Guadarrama abhob, die ihn vorm Nordwind schützten. Und seltsam – trotz alledem, was ich von dem melancholischen und todessüchtigen Charakter seines Erbauers gehört hatte, erschien mir der Escorial, nicht nur wegen seiner Weiße, sondern auch mit seinen Domen, Türmen, Pfeilern und goldenen Kuppeln, wie ein weitläufiger orientalischer Palast, den ein begeisterter Wesir zu seiner Lustbarkeit oder für seine Lieblingsfrau erbaut hatte.
    »Nun, Señor Marqués«, sagte Don Fernando, und sein ernstes Pferdegesicht verriet einige Genugtuung, mich in so andächtigem Staunen zu finden, »wir nennen ihn das achte Weltwunder. Was meint Ihr?«
    »Ich kenne die sieben anderen nicht«, sagte ich, »aber ich weiß wahrlich nichts, weder in London noch in Paris, noch in Rom, was ihm gleichkäme.«
    »Ja, es ist unstreitig«, sagte mit einem Lächeln Don Luis, »daß der Escorial, von hier aus gesehen, einen großartigen Eindruck macht.«
    Sein Lächeln und seine Einschränkung hatten wenigstens das Verdienst, mich auf die Enttäuschung vorzubereiten, die mir wurde, als ich nach einer Stunde Trab als erster zu Füßen des Bauwerks anlangte. Ha, Leser! Der Escorial war groß, in der Tat, er war sogar riesengroß, aber die erbarmungslos nackte und eintönige Fassade mit ihren Hunderten gleichförmiger Fenster schmetterte das Auge nieder durch ihre trostlose Geometrie. Außerdem war er gar nicht weiß, sondern von trübsinnigem Grau mit schwarzen Sprenkeln. Wie weit entfernt war das von meinem orientalischen Palast mit seinen

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