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Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition)

Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition)

Titel: Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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›dann müßt Ihr nicht fasten. Seht Ihr, hier steht geschrieben:
Wenn jemand nicht einschlafen kann, weil er nicht zu Abend gegessen hat, muß er dann fasten? Er muß es nicht.
‹ – ›Fein‹, sagte ich, ›und wer hat das geschrieben?‹ – ›Unser Pater Emmanuel Sa in seinen
Aphorismen für Beichtiger.
‹ – ›Und‹, sagte ich, ›sind alle Eure Patres dieser Ansicht?‹ – ›Keineswegs. Viele unserer Patres, und ich als erster, meinen das Gegenteil.‹ – ›Ach!‹ sagte ich verwirrt, ›und welcher Meinung soll ich nun folgen? Ihrer, Eurer oder der von Emmanuel Sa?‹ – ›Der von Emmanuel Sa‹, sagte Pater Guignard, ›denn es ist eine
wahr scheinende Meinung.
‹ – ›Eine
wahr scheinende
Meinung!‹ rief ich. ›Mein Pater, das ist zu tiefsinnig für mich. Was ist eine
wahr scheinende
Meinung?‹ – ›Eine Meinung erscheint wahr, sobald sie, und sei es auch nur von einem einzigen ausgewiesenen Gelehrten vertreten wird. Und wenn das Beichtkind einer
wahr scheinenden
Meinung folgt …‹ – ›Mein Pater‹, sagte ich entzückt, ›darf es das?‹ – ›Ja, wenn sie ihm frommt. In dem Falle muß der Beichtvater Absolution gewähren, auch wenn er eine gegenteilige Ansicht vertritt. Was, wie Ihr wißt, Madame, mein Fall ist‹, setzte er demütig, mit niedergeschlagenen Augen und leise seufzend hinzu.«
    »Schön geseufzt!« sagte ich lachend.
    »Ungezogener, spottet nicht!« sagte die kleine Herzogin, ihr Händchen hebend, das ich aber diesmal nur einfing, ohne es zuküssen, um nicht neuerlich ein Gespräch zu unterbrechen, das mir soviel Erhellendes brachte.
    »Man muß zugeben«, fuhr sie fort, weil sie sah, daß ich ganz Ohr war, »daß Pater Guignard ein sehr gewandter Mann ist, er löst alle meine Schwierigkeiten im Handumdrehen.«
    »Welche zum Beispiel noch?« fragte ich.
    »Namentlich die meinen Sohn betreffenden. Ich machte mir nämlich furchtbare Sorgen, als ich hörte, daß er Saint-Paul niedergestochen hat, ohne daß dieser auch nur blankziehen konnte, weil ich mir sagte, daß der Unglückselige mitten in all seinen Sünden gestorben und also verdammt ist und mein Sohn auch, denn er hat ja nicht nur seinen Körper getötet, sondern sozusagen seine Seele mit. Kurzum, die Geschichte ließ mir keine Ruhe, und ich eröffnete mich Pater Guignard, der mir sogleich jeden Zweifel nahm. ›Madame‹, sagte er, ›hierzu gibt es die
wahr scheinende
Meinung eines unserer Patres, nämlich daß man ein Duell anfangen oder annehmen kann, wenn es darum geht, sein Eigentum zu retten. Was ja leider der Fall war.‹ – ›Aber, Ehrwürden‹, sagte ich, ›mein Sohn hat Saint-Paul gemeuchelt.‹ – ›Oh, durchaus nicht‹, sagte Pater Guignard und hob abwehrend die Hände. ›Einer unserer Patres, auch ein guter Gelehrter, sagt, meuchlerisch töten heißt einen Mann töten, der nichts argwöhnt. Tötet man aber hinterrücks seinen Feind, so tötet man ihn nicht meuchlerisch, denn als Euer Feind muß er von Euch etwas argwöhnen.‹«
    »Wie bewundernswert!« sagte ich. »Nie hätte ich bei den guten Patres soviel Wissenschaft vermutet. Und nie wäre ich auf die Idee gekommen, daß es den ruchlosen Meuchelmord einerseits und andererseits den gottesfürchtigen Meuchelmord gibt.«
    »Es ist aber die Wahrheit«, sagte die kleine Herzogin mit so köstlich naiver Miene, daß ich mich daran nicht satt sehen konnte. »Aber«, fuhr sie fort, »geradezu unendliche Dankbarkeit faßte ich für den guten Pater, als er mir eine Gewissensfrage löste, die von großer Bedeutung für mich war und die Euch betraf.«
    »Mich?« fragte ich staunend.
    »Mein Pierre«, sagte sie wimpernschlagend und rosig anlaufend, »Ihr müßt wissen, daß Ihr mir schon in Eurer Verkleidung als Tuchhändler nicht mißfielt, obwohl Ihr nur Augen für meine Schwiegermutter Nemours hattet.«
    »Süße Herzogin«, sagte ich, »Madame de Nemours liebte ich wie eine Mutter, während ich Euch wahrlich nicht wie eine Mutter betrachtete.«
    »Wahr ist, Monsieur«, sagte sie mit gespielter Kühle, »daß Ihr jede Frau, jung oder alt, mit so sanften, zärtlichen, bewundernden und begehrlichen Augen betrachtet, daß man denken muß, Ihr wärt in sie vergafft. Aber lassen wir das. Werde ich eifersüchtig sein auf meine Frau Schwiegermama, wenn ich Euch habe? Und«, setzte sie mit der süßesten Miene hinzu, indem sie mich umschlang, »Euch festhalte am Halsband meiner Arme.«
    Worauf ich den Kopf neigte und besagte Arme küßte, wortlos,

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