Der Tag der Messer: Roman (German Edition)
als Boten und Spione dienten, konnten sie Frafa im Erker leicht aufspüren. Sie konnte hier nicht bleiben.
Frafa wagte nicht, die Treppe hinab und durch den Turm zu schleichen. Dieser Weg führte ohnehin nur in eine Festung, die von feindlichen Truppen besetzt war. Sie erinnerte sich an die Goblins, die Aldungans Turm gestürmt hatten. Frafa hätte nicht gedacht, dass sie noch einmal in eine solche Lage geraten würde …
Sie schaute auf Balgir hinab. Die Echse hockte vor ihr auf dem Boden und sah zu ihr auf. »Nein«, sagte sie und wusste nicht einmal, ob sie zu sich selbst sprach oder zu ihrem Taschentier. »Diesmal nicht.«
Balgir konnte ihr nicht helfen. Sie konnte nicht ihre Größe ändern, und ein Seil allein reichte nicht, um aus der Zitadelle zu fliehen. Ihr blieb nur eines übrig, nämlich ein sicheres Versteck zu suchen: die geheime Kammer mit Leuchmadans Kästchen.
Während der letzten Nächte hatte sie viel Zeit mit diesem Behältnis verbracht. Es war schwer gewesen, seine Macht freizusetzen, ohne dass der stete Strom zu viel von ihrer eigenen Lebenskraft fortriss. Doch es steckte genug Kraft in dem Kästchen, um ihr eigenes Leben für eine Ewigkeit zu erhalten. Sie musste nur lernen, diese Kraft richtig zu lenken. Bisher hatte sie die Magie immer nur an sich vorbeigeleitet, sie hatte niemals versucht, davon zu zehren.
Wie schwer konnte das sein? Sie musste einfach mehr von dieser Kraft aufnehmen, als der Strom zugleich von ihr fortriss. Was die mächtigsten Nachtalben in der Welt schafften, allein von den Kräften des Äthers zu zehren, weder Speis noch Trank zu bedürfen und ihren Leib ganz dem Zauber zu unterwerfen – würde ihr das hier, am Quell aller Lebenskraft, auch gelingen?
Frafa hatte keine Vorräte, kein Wasser in diesem Versteck. Sie wusste nicht, wie lange sie dort ausharren musste oder wie lange sie überhaupt unentdeckt bliebe. Aber sie konnte zumindest versuchen, sich an der Magie zu laben … Oder sie würde davon verschlungen werden, wenn sie den Strom nicht beherrschen konnte.
Sie beugte sich zu ihrem Vertrauten hinab. »Lebewohl, Balgir«, flüsterte sie. »Ich kann dich nicht mitnehmen. Wenn ich in der Kammer sterbe, kommst du nicht hinaus. Oder ich überlebe und könnte dich doch nicht am Leben erhalten. Aber du kannst über die Wände klettern und dich überall verbergen. Du hast bessere Aussichten, wenn du es allein versuchst. Wenn alles gut geht … finde ich dich wieder.«
Magati hatte die Augen schließen müssen, als sie durch das Tor traten. Als sie die Lider nun wieder auftat, fand sie sich von Mauerwerk umgeben. Audan stand neben ihr und hielt die Augen immer noch fest zugekniffen. Hinter ihnen ragte Werzaz auf, der unheimliche Goblin.
Sie standen in einem schmalen Gang, der mit schweren Steinplatten ausgelegt war. Die Wände bestanden aus groben grauen Quadern, die Decke wölbte sich über ihnen. Der Gang war so breit, dass zwei Goblins mit ausgestreckten Armen nebeneinanderstehen konnten, und hoch genug für einen Troll. Es war kühl, und die Luft roch abgestanden.
Sie knuffte Audan.
»Ist es vorbei?«, fragte der und blinzelte.
»’s fängt grad erst an, Käferhirn«, knurrte Werzaz.
Magati legte eine Hand auf das Mauerwerk. Es war kühl und fühlte sich ein wenig feucht an.
»Kann es sein«, sagte sie, »dass dieses Labyrinth des Schreckens einfach unter der Stadt liegt? Dass dieses Reich, in das der Scharfrichter einen Zugang schafft, gar nicht so magisch ist? Womöglich finden wir ganz einfach einen Ausgang, indem wir uns nach oben vorkämpfen?«
»Nicht so einfach, Warzenhaar«, knurrte Werzaz. »Wir Goblins kennen die Stollen unter der Stadt gut. Den hier kenn ich nicht.«
»Gehn wir einfach ein bisschen weiter«, schlug Audan vor. »Womöglich kommt es dir irgendwann bekannt vor.«
Werzaz fauchte. Er trat gereizt nach dem Gnom, aber sein Bündel mit Waffen war so groß und schwer, dass er sich nur träge bewegen konnte.
»Was?«, fragte Audan empört und flüsterte Magati zu: »So ein Groblin!«
Magati spähte den Gang entlang. Seltsamerweise war es nicht wirklich dunkel hier drin, es war eher dämmrig. Doch weit und breit gab es keine Lampe, nur Gänge, so weit das Auge reichte. Vielleicht ist dies doch ein magischer Ort, dachte sie.
»Jedenfalls sieht es hier gar nicht so schrecklich aus«, stellte Audan fest. »Ich dachte immer, das Labyrinth wäre voller riesiger Ungeheuer.«
Der breite Stollen setzte sich in beide Richtungen fort.
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