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Der Tag der Messer: Roman (German Edition)

Der Tag der Messer: Roman (German Edition)

Titel: Der Tag der Messer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Lohmann
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Der Scharfrichter war missgestaltet, unter seiner Haut spielten keine geschmeidigen Muskeln. Stattdessen schienen sich dort bei jeder Bewegung die Knochenenden abzuzeichnen. Der Scharfrichter war grau wie der Tod, und sein Antlitz grob und hässlich. Und doch …
    Auf eine gewisse, entstellte Weise bildete der Scharfrichter wahrhaft jenes Geschöpf ab, das sie hier vor sich sahen.
    ›Besucher‹, klang eine Stimme, so wohlklingend wie ein gut gestimmtes Instrument. Sie schien in Magatis Kopf zu erklingen, die Lippen des Wesens vor ihr bewegten sich nicht. Es faltete elegant die Hände unter dem Kinn und sah auf die Gnome hinab.
    Wito trat aus dem Türrahmen in den Raum. Audan zog sich ein wenig zurück und murmelte unruhig eine Warnung.
    ›Verzweifelte, die durch alle Schrecknisse den Weg zu meinem Sanktum gefunden haben.‹
    »Wer bist du?«, fragte Wito.
    Das Wesen hob den Kopf. ›Warum diese Frage? Noch nie hat jemand sie gestellt. Nicht an diesem Ort. Wen kümmern Namen? Wen kümmert das Sein? In der Abkehr, in der Einsamkeit liegt alle Zuflucht. Dies ist der Ort für jene, die aufgegeben haben. Hier helfe ich ihnen und richte sie wieder auf. Was schmutzig, was zerbrechlich ist, was Schmerz empfindet – schickt es fort, fort, um den Rest zu retten.‹
    Das Geschöpf trat zur Seite. Der Stein hinter ihm erstrahlte, doch das Licht veränderte sich. Das blaue Leuchten wurde zu einem Wirbel. Während die Aura des Edelsteins anwuchs, verschoben sich die Farben. Wurden zu einem saugenden Unlicht …
    »Das Tor!«, rief Magati. »Der Ausgang!«
    Audan kam wieder hinter ihr hervor und sah in den Raum.
    Wito hob die Hand und hielt die beiden zurück.
    »Ich will nicht nur gehen«, sagte er. »Ich will verstehen!«
    Das Wesen sah ihn fassungslos an. ›Hast du es denn noch nicht verstanden? Das eben ist die Lehre dieses Ortes! Schmerz und Schrecken sind draußen. In der geschlossenen Tür liegt die Freiheit. Lass dich auf nichts ein, und du wirst nicht verletzt werden. Wende dich von allem ab, von diesem Labyrinth wie von der Wirklichkeit, und schaffe deine eigene Zuflucht. So wie ich.‹
    »Du bist der Scharfrichter von Daugazburg«, sagte Wito.
    Die hochgewachsene Kreatur wich zurück und zog die Schultern ein. Sie schüttelte heftig den Kopf. Sie verschwand beinahe unter dem Unlicht, das nun düsterdunkel in der Mitte des Raumes hing und alles Sehen auslöschte. ›Nein. Nein!‹, rief sie. Ließ sie ihre Stimme erklingen …
    »Wer bist du dann?«
    ›Ich bin Andinjar. Andinjar der Draudegan.‹
    Das Wesen trat wieder vor. Unruhig rang es die Hände.
    ›Ich zeige es euch doch! Warum muss ich es erklären? Ich bin nicht das Ding, das ihr Scharfrichter nennt. Ich bin nicht dieses Ding! Ihm ist dieser Ort versperrt. Nur so kann ich meine Seele rein erhalten.‹
    Andinjar wies auf den Edelstein, der inzwischen hinter dem Schleier aus Unlicht verborgen lag. Audan und Magati waren beide in den Raum getreten. Sie drängten sich an Wito und hielten den Kopf gesenkt. »Wir sollten gehen«, flüsterte Audan.
    Aber Wito schüttelte den Kopf. »Erklär es mir, Andinjar«, sagte er leise.
    ›Ich bin Andinjar. So alt und mächtig. Ein Fürst von Falinga, dem geschützten Lande. Da kam ein Fae daher. Ein Fae. Ein Gott, behauptet er. Von Leuchmadans Geist. Er will König sein, und er bricht mich, bricht mich. Ich widersetze mich, aber er bricht mich. Knochen und Geist, jenseits aller Heilung. Schneidet meine Augen. Formt meinen Leib. Aber ich unterwerfe mich nicht. Ich nehme meine Seele, hierhin, hierhin. Ich halte sie rein. Und den Scharfrichter lasse ich zurück.‹
    Andinjar bewegte die Klauenfinger und kam näher. Ein verschlagenes Grinsen lag auf seinem wohlgeformten Antlitz. Audan und Magati wichen zurück, aber Wito blieb stehen wie eingefroren. Andinjar beugte sich zu ihm hinab.
    Seine Stimme klang ihnen allen.
    ›Verstehst du, kleines … Ding? Ich widersetze mich Leuchmadans Umsturz. Ich übertölpele ihn. Ich fliehe hierher, in Sicherheit, und lasse den Scharfrichter zurück. Als Täuschung und als Ablenkung. Ohne Namen. Ohne Seele. Leuchmadan denkt, er hat mich unterworfen. Aber meine reine Seele ist hier, hinter Türen und Irrwegen und Mauern. Was zurückbleibt, ist … leer. Fügsam. Gebrochen. Entstellt. Aber das bin nicht ich. Ich bin hier. Ich warte. Ich räche mich.‹
    Andinjar schob sein Gesicht noch dichter an Wito heran, als wolle er ihm etwas zuflüstern. Doch seine unwirkliche Stimme klang so klar wie

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