Der Tag der Messer: Roman (German Edition)
Frafa öffnete die trübe Scheibe und sah nach draußen.
Rings um den Turm herrschte Ruhe. Auch der Blick auf die nahe Vorstadt zeigte nichts Außergewöhnliches. Was auch immer den Lärm verursachte, es geschah auf der anderen Seite des Turms, dort, wo die Zitadelle, die Festungen und die meisten der hohen Türme standen.
Sie kleidete sich hastig an und ging zur Tür. Balgir wuselte um ihre Füße. Frafa pflückte das Taschentier vom Boden und legte es sich über die Schulter. Der Flur war verlassen, doch Stimmen drangen aus dem Treppenhaus. Sie schienen aus dem Geschoss darunter zu kommen, wo es eine Aussichtsplattform zur Stadt hin gab.
Frafa hastete die Stufen hinab. Vor dem Zugang zum Balkon drückte sich ein halbes Dutzend Goblinwachen herum, obwohl es in diesem Stockwerk kaum etwas zu bewachen gab. Frafa zwängte sich an ihnen vorbei. Draußen stand eine Gruppe Alben, Aldungans Schüler und die Famuli seines Haushalts. Sie alle drängten sich an die Brüstung, tuschelten und spähten in die Stadt hinaus.
»Was ist denn los?«, fragte Frafa.
Sie sah an einigen Stellen Rauch aufsteigen, meist in der Nähe der großen Kasernen. Die Schreie aus den Gassen klangen deutlicher an ihr Ohr, das Brüllen von Goblins, Waffengeklirr.
Glaura, eine ältere Schülerin, die bislang kaum ein Wort mit Frafa gewechselt hatte, wandte sich ihr zu und sagte: »Bekommst du denn gar nichts mit? Den ganzen Tag schwirren Gerüchte um Mord und Totschlag umher, und nun haben die Goblins ihre Kasernen verlassen und ziehen plündernd durch die Straßen.«
»Ich habe geschlafen«, sagte Frafa.
Glauras Stupsnase wies selbst dann noch nach oben, wenn sie auf Frafa herabblickte. »Ach ja«, meinte sie. »Die jungen Alben. Würdest du deine geistige Disziplin schulen und den Schlaf durch gezielte Meditation ersetzen, bliebe dir mehr Zeit für deine Ausbildung. Du würdest nicht mehr so viel versäumen.«
»Heute Mittag besuchte Daudragor mit einigen seiner Schüler den Meister«, ergriff ein anderer Alb das Wort. »Er hatte zwei Gnome erschlagen, die ihn anscheinend im Schlaf ermorden wollten. Natürlich schlief Daudragor nicht . Aber er verlor mehrere seiner engsten Getreuen bei weiteren Anschlägen in seinem Turm.«
Frafa wippte auf den Zehenspitzen und versuchte, an den anderen vorbei mehr zu erkennen. Anschläge auf Nachtalben kamen immer wieder vor, meist von neidischen Konkurrenten in Auftrag gegeben. In den letzten Jahrhunderten hatte die Fei solche Machtkämpfe zu unterbinden versucht und Gesetze eingeführt. Aber das führte nur dazu, dass die Vorgehensweisen tückischer wurden. Gnome waren geeignete Meuchelmörder, und wenn man sie geschickt anheuerte, ließ sich die Spur nur schwer zurückverfolgen.
Der Mord an den Famuli eines einflussreichen Nachtalb-Zauberers erklärte also nicht den Aufruhr in der ganzen Stadt, und auch nicht, warum die Goblins ihre Kasernen verließen. Allerdings redeten die übrigen Alben auf dem Balkon nun alle durcheinander, und Frafa erfuhr, dass noch einiges mehr geschehen war.
»Es gab weitere Anschläge.«
»Anschläge kann man das nicht mehr nennen, es war eine Säuberung. Wie es heißt, sind auch die Fürsten verschwunden, die Geliuna letzte Nacht empfangen hat.«
Glaura blickte sich verstohlen um. Dann beugte sie sich näher zu Frafa hin. »Man sagt, die Fei ist den Aufruhr der letzten Jahre endgültig leid geworden«, flüsterte sie so auffällig, dass jeder auf dem Balkon es hören konnte. »Nun lässt sie alle Rivalen und Unruhestifter beseitigen. Da hält man besser die Türen geschlossen und meidet die Straßen. Hoffen wir, dass Aldungan nicht den Unwillen der Herrin auf sich gezogen hat.«
»Ihr glaubt also, die Goblins wollen zu Ende bringen, was die Meuchelmörder bei Tage nicht geschafft haben?«
Glaura zuckte die Achseln und wandte sich wieder in Richtung der Stadt. Sie legte die Finger an die Schläfen. Frafa spürte, wie die Albe ihre magischen Sinne ausgreifen ließ, um mehr von den Vorgängen rings um den Turm zu erspüren.
»So genau weiß das niemand«, raunte der Alb, der schon von dem Anschlag auf Daudragor erzählt hatte. »Das letzte Gerücht besagt, dass alle Hauptleute und Leutnants der Goblins mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden wurden, als man sie zum Wachwechsel wecken wollte. Seitdem marodieren die Horden ohne Führung in der Stadt.«
Frafa sah sich um. Sie beäugte misstrauisch die behaarten Gestalten, die sich im Flur herumdrückten und ihre Waffen
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