Der Tag der Messer: Roman (German Edition)
vor dem Tisch blieb sie stehen. Sie konnte das Kästchen fühlen, ohne die Augen zu schließen. Die Kammer musste abgeschirmt sein, denn draußen vor der Tür hatte sie nichts wahrgenommen. Doch seit sie die Schwelle überschritten hatte, spürte sie die Macht wie ein nagendes Unbehagen. Als sie unmittelbar davorstand und zaghaft mit ihrer Essenz tastete, war ihr, als wäre hinter dem dünnen Silber dieser Schatulle ein brausender Wasserfall, dessen Dröhnen in Frafas Leib widerhallte.
»Ich glaube nicht, dass ich es beherrschen kann«, sagte sie zaghaft.
»Tu dein Bestes«, meinte Darnamur. »Ich will dir nichts vormachen. Wir brauchen jemanden, der sich um das Ding kümmert, und zwar bald. Es raubt dem Land noch immer die Lebenskraft. Seit die Fei tot ist, bleibt der Regen aus und die Pflanzungen verdorren. Es wird Hunger geben in der Stadt, wie vor tausend Jahren. Noch bleiben uns ein paar Mondläufe, um zu handeln. Dir bleiben noch ein paar Mondläufe Zeit, um zu lernen! Aber wenn du es nicht tust, werden wir untergehen, und darum wirst du nun damit anfangen.«
Er stellte es ganz nüchtern fest, als wäre es eine Tatsache. Frafa erkannte, dass es ein Befehl war, keine Bitte. Sie dachte an die letzten Tage zurück. Sie konnte sich dieser Aufgabe nicht entziehen, selbst wenn sie es wollte. Aber wollte sie es überhaupt?
Das Kästchen war verlockend.
Sie fühlte die Macht.
Allein schon in der Nähe von Leuchmadans mächtigem Artefakt zu stehen veränderte sie. Sie fühlte sich nicht länger wie Frafa, die Schülerin. Sie war Frafa, die Nachtalbe! Die Zauberin. Eine Zauberin von eigenem Recht, mit eigener Stellung. Auf Augenhöhe mit Bleidan.
Dieser Gnom verlangte ja nichts anderes von ihr, als dass sie das war, was sie immer hatte sein wollen!
Frafa lächelte. Balgir spannte sich und sprang mit einem Satz von ihrer Schulter. Er huschte aus der Kammer. Frafa tat noch einen Schritt und legte die Hand auf das Kästchen.
Es riss ihr beinahe die Essenz aus dem Leib. Frafa musste alle Kraft aufbieten, um nicht in einem Meer von Lebenskraft zu versinken. Sie sah kein Kästchen mehr, nahm nichts mehr wahr von dem Raum oder vom eigenen Körper. Sie war anderswo, sie war reine Magie, an der ein Mahlstrom riss.
Sie ballte sich zusammen, so eng und fest, wie sie ihre Essenz nur bündeln konnte. Frafa hatte jeden Sinn dafür verloren, wo sie war. Sie konnte sich nicht mehr zurückziehen. Es dauerte lange, bis sie überhaupt wieder ein unbestimmtes Gefühl von einem Draußen entwickelte.
Es gab die Magie des Kästchens, und irgendwo dahinter eine Außenwelt, kaum wahrnehmbar durch den brausenden Wasserfall gefangener Essenz. Wenn Frafa auch nur einen Augenblick unaufmerksam war, wenn ihre eigene Essenz die reine Kugelform verlor, eine winzige Unregelmäßigkeit zeigte, wenn sie einen Finger ausstreckte … wurde sie von der übermächtigen Magie wieder glatt geschmirgelt. Was auch immer sie an Angriffsfläche bot, es wurde abgerissen.
Frafa geriet in Panik.
Unmöglich konnte sie die Magie des Kästchens kontrollieren! Ihre Kraft und ihre Begabung hatten eben ausgereicht, eine Verbindung herzustellen, eine Verbindung, die ihr eigenes Sein in das Kästchen zu reißen drohte, genau wie alle Lebenskraft der Grauen Lande schon seit Jahrhunderten. Wie sollte sie überhaupt wieder hinausfinden, wenn sie nicht einmal mehr ihren Körper spürte?
Das Leben entreißen …
Es war kein Zufall, dass die Magie an ihr zehrte. Es lag nicht nur an der übermächtigen Kraft dieses Kästchens, die sie nicht beherrschen konnte, es war eine Auswirkung des letzten Zaubers, den Leuchmadan damit gewirkt hatte! Erst in der letzten großen Schlacht vor tausend Jahren hatte Leuchmadan das Kästchen dazu veranlasst, das Leben des Landes an sich zu reißen. Er hatte keine Gelegenheit mehr gefunden, diesen Zauber zu lösen, und so wirkte er bis heute weiter.
Diese Erkenntnis konnte Frafa nutzen. Mit einem Mal konnte sie die Ströme der Magie besser unterscheiden. Da war die Lebenskraft, die in das Kästchen gebannt war, ein aufgewühltes Meer roher Magie. Und da war eine andere Kraft, die dieses Meer formte und bändigte und einen Zufluss schuf. Diese zweite Kraft war es, die an Frafas Essenz zerrte und sie zu verschlingen drohte. Das Meer dahinter, wohin es sie zog, war übermächtig, doch es wandte sich nicht gegen sie.
Der Sog wirkte nicht überall. Frafa lernte, sich der gerichteten Kraft zu entziehen. Ganz langsam entwand sie sich
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