Der Tag der Rache. Private Berlin
achte aber auf die an der Decke befestigten Kameras. Am Schalter stehen sechzehn Kartons mit Unterlagen, weitere würden im Mikrofilmraum am Ende des Flurs auf mich warten. Die nette Angestellte hilft mir, den Rollwagen zu meinem Platz zu schieben.
Ich beginne zuerst mit dem Papierarchiv, das ich rasch überfliege. Im vierten Karton finde ich die Unterlagen zum Waisenhaus 44, das etwa eine Stunde von Berlin entfernt außerhalb von Halle lag. Es werden Hunderte von Namen aufgeführt, allerdings nicht alphabetisch. Irgendwie scheinen sie in Unordnung geraten zu sein.
Doch als ich sie mir genauer ansehe, entdecke ich, dass sie nach Zugangsdatum sortiert sind. Ich lächle. In weniger als zehn Minuten habe ich die Unterlagen von sechs Kindern einschließlich der Fotos gefunden, die am Tag ihrer Aufnahme im Waisenhaus 44 gemacht wurden.
Einen Moment lang verweile ich beim Bild von Christoph. Mager, dunkle, eingesunkene Augen voller Angst und Hass.
Genauso erinnere ich mich an ihn als Jungen. Doch ich kann es mir nicht leisten, die guten alten Tage wiederaufleben zu lassen. Ich habe wichtige Dinge zu erledigen.
Ich zähle die Seiten in den sechs Akten. Sechsundfünfzig. Ich lasse die Unterlagen auf dem Tisch liegen, greife zu meiner Aktentasche und gehe zur Toilette. Aus einem Geheimfach im Innern der Tasche ziehe ich einen Stapel alt aussehendes Papier heraus, das mit sinnlosem Quatsch bedruckt ist. Sechsundfünfzig Blätter davon schiebe ich in sechs graue, abgenutzte Ordner, lege sie in die Aktentasche, schließe sie und kehre an meinen Platz im Lesesaal zurück. Dort merke ich mir die Plätze der anderen Besucher und stelle die Aktentasche weit geöffnet außerhalb ihrer Sicht auf den Boden.
Dann warte ich. Fünf Minuten vergehen.
Punkt elf schieben Angestellte neue Dokumente herein. Die Besucher, die darauf gewartet haben, gehen zum Schalter. Alle Blicke folgen ihnen und beobachten, was passiert. In einer fließenden Bewegung schiebe ich die sechs Akten von meinem Schreibtisch in meine Aktentasche, lege die falschen Akten auf den Tisch und lasse sie gleich danach im Karton mit den anderen echten Dokumenten verschwinden.
In weniger als einer Minute sind die Kartons gepackt. Diese stelle ich auf den Rollwagen zurück, stehe auf und gehe mit der Aktentasche in der Hand auf die Toilette, wo ich die Akten ins Geheimfach der Tasche stecke.
Anschließend gehe ich in den Mikrofilmraum und ziehe mich mit den bestellten Kartons in den hinteren Bereich an ein Gerät zurück, das dem Schalter gegenübersteht. Rasch durchsuche ich die Filme nach weiteren Dokumenten zu den Kindern. Die Informationen dazu verteilen sich auf fast sieben Meter Film.
Die Angestellten sind beschäftigt.
Ich ziehe ein scharfes Klappmesser aus meiner Tasche. Ohne zu zögern schneide ich den Film durch, wickle das lose Ende um meine Finger, bis ich das andere Ende mit den relevanten Informationen erreicht habe, und setze das Messer erneut an. Schließlich stecke ich die kleine Rolle, die ich mit einem Gummiband zusammenhalte, in meine Jackentasche.
Als ich meine Hand wieder herausziehe, halte ich darin meine zuverlässige Tube mit Superkleber.
Ach, meine Freunde, man kann so viel mit diesem Zeug anstellen.
Mit einem Blick durch den Raum vergewissere ich mich, dass ich nicht beobachtet werde, berühre mit der Tube das abgeschnittene Filmende und drücke es auf das andere, wo sie sich einen halben Zentimeter überlappen.
Eine Minute halte ich die Enden zusammengedrückt, greife zum losen Ende der Rolle und wickle sie vorsichtig auf. Sie hält. Die Rolle lege ich in den Karton zurück, diesen stelle ich ordentlich zwischen die anderen Kartons, die ich daneben gestapelt habe.
Ich stehe auf, greife zur Aktentasche und gehe Richtung Tür.
»K ommen Sie heute noch einmal wieder, Herr Professor?«, fragt die Angestellte.
»N atürlich«, antworte ich. »N ur schnell was essen, dann bin ich wieder da.«
Ich kann ihn nicht unterdrücken, diesen Knacklaut in meiner Kehle. Ich lächle. Und kann ihn auch ein zweites Mal nicht unterdrücken, als mir das Bild von dem jungen Christoph einfällt.
Du hattest keine Chance, denke ich. Genauso wenig, wie die anderen eine haben.
45
Mattie ging zur Pforte des Bundesarchivs. Im Pförtnerhäuschen kontrollierten die Pförtner die Aktentasche eines älteren Mannes in langem Regenmantel und mit bayerischem Hut. Seine Hände zitterten, als litte er unter Parkinson oder einer anderen neurologischen Störung. Aber
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