Der Tag der Rache. Private Berlin
Krüger.«
Hauptkommissar Dietrich drückte auf seinem Telefon die Aus-Taste, als der Mond Opfer der Wolken wurde, die das Gelände mit dem Ehrenmal in völlige Dunkelheit tauchten. Einen Moment lang dachte Dietrich, er wäre blind.
93
Ich muss gestehen, Freunde, dass ich seit Mitternacht Absinth trinke, die grüne Fee.
Gewöhnlich fröne ich keiner Sorte von Gift. Aber zum ersten Mal verstehe ich, wie es ist, wenn man, von bellenden Hunden verfolgt, aus dem Gefängnis flieht. Die grüne Fee ist das Einzige, was mich vor einer panischen Flucht bewahrt.
Natürlich sagt mir mein Instinkt, ich soll abhauen. Mein betrunkenes Herz rast bei dem Gedanken, dass ich mein Leben zurücklassen und mich wieder hinter einer anderen Maske verstecken müsste. Meine jetzige wurde unter großem Aufwand hergestellt. Mit der gleichen Sorgfalt wie diejenigen an den Wänden des Raumes, in dem ich Absinth trinke und vor mich hinbrüte.
Ich bin benebelt und sehe vor meinem geistigen Auge, wie ich am Ende der Straße saß, in der Mattie Engel wohnt, und darauf wartete, dass Tom Burkhart das Haus verließ. Doch er kam nicht. Die Lichter in Matties Wohnung gingen aus, während er noch dort war, und ich sah mich dem plötzlichen, starken Verlangen nach dem grünen Schnaps ausgesetzt, mit dem ich meine wachsende Nervosität unterdrücke.
Was hat Ilona den beiden erzählt? Ist ja auch egal. Es sind die Spinnereien einer geisteskranken Frau. Davon werden sie ausgehen.
Sofern sie nicht Kiefer Braun finden.
Ich habe jede mir zur Verfügung stehende Suchmaschine verwendet. Ich habe mehrere Detekteien beauftragt, doch keine Spur von ihm gefunden. Vielleicht hat mein lieber, alter Freund Kiefer genauso wie ich einfach beschlossen, in ein anderes Leben abzutauchen.
Oder vielleicht hat er Deutschland verlassen. Oder ist gestorben.
Schön und gut. Wenn das der Fall ist, brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Kiefer ist lange fort und Ilona Frei eine sehr unglaubwürdige Zeugin. Damit stehe ich gut da. Das ist genauso gut möglich wie alles andere auch, sage ich mir, während ich mir nachschenke.
Jetzt fängt die grüne Fee an, ernsthaft mit meinem Hirn zu spielen. Ich hebe den Kopf zu meiner Maskensammlung, lasse den Blick stolz über die Geschöpfe gleiten, zu denen ich hinter ihnen geworden bin. Ich lächle. Unter Verbündeten fühle ich mich genauso wahrhaftig wie ihr, meine Freunde.
Es heißt, Absinth habe halluzinogene Eigenschaften. Das weiß ich nicht mit Sicherheit. Doch zwischen den an den Wänden hängenden Masken bilden sich die Gesichter von Mattie Engel und Tom Burkhart heraus und werden immer schärfer. Sie scheinen mich auszulachen.
Zuerst bin ich schockiert, weil sie in mein Heiligstes eingedrungen sind. Dann werde ich wütend. Ich wirble herum und reiße die beiden Masken– eine aus Holz, die andere aus Keramik–, die mich als Gesichter von Private Berlin verhöhnt haben, von der Wand und zerschlage sie auf dem Fliesenboden in tausend Stücke.
Anschließend rappele ich mich auf, stehe wankend und keuchend da. Der Absinth hilft mir, wieder zur Besinnung zu kommen. Ich muss mich der Tatsache stellen, dass die Hunde hinter mir her sein werden, wenn doch jemand Ilona Frei glaubt.
Keine Panik, meine Freunde. Schließlich bin ich Berliner. Ich weiß, wie ich mein Terrain verteidigen muss. Der Trick ist, schlauer zu sein als die Hunde und notfalls ins Wasser zu gehen, umzukehren oder, besser noch, etwas zu tun, was niemand erwartet.
Umkehren, ja. Etwas tun, was die Gegner sprachlos macht.
Plötzlich wirft die grüne Fee aus den Tiefen meines Unterbewusstseins eine Idee ans Tageslicht. Ich greife danach, betrachte sie wie ein Geschenk. Ein wertvolles Geschenk. Perfekt! Endlich kann ich wieder lächeln.
Ja, denke ich schließlich, mit dieser Möglichkeit löse ich das Problem ein für alle Mal. Wirklich perfekt!
Ich stelle das Glas ab und gehe zu meinem Schreibtisch. Dort schließe ich Chris Schneiders Festplatte an meinen Laptop an und rufe die Fotos auf, blättere nach unten.
Ah, da ist es.
Mit einem Doppelklick vergrößere ich das Foto von Mattie Engels Sohn, Niklas. Er kniet auf einem Bein, hält einen Fußball in der Hand und grinst spitzbübisch in die Kamera. Was für ein netter kleiner Junge. Wirklich bezaubernd.
Ich wette, er ist der Augapfel seiner Mutter.
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Mattie wachte zum Geruch von gebratenem Speck und frischem Kaffee auf. Zum ersten Mal, seit sie von Chris’ Verschwinden erfahren hatte, fühlte sie
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