Der Tag der roten Nase
dass diese Geste an der ehrgeizigen Lippenumrandung der Ärmsten Schaden angerichtet hatte. Vom linken Mundwinkel führte eine nach Gewalttat aussehende rote Spur schnittwundenartigabwärts. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was mir dazu einfiel, aber dann schoss es mir von irgendwo her in den Kopf: der Joker – der Joker, die Comicfigur, mein Sohn hatte das Zeug früher gelesen, aber diesmal brachte mich der Irrgedanke nicht mal zum Schmunzeln, sondern mich überkam Mitleid mit dem weiblichen Wesen. Also verzog ich meine farblosen Lippen zu einem kameradschaftlichen Lächeln und wünschte ihr noch einen schönen Tag, raschelte mit den Papieren im Arm und machte mich eilfertig auf den Weg zur Treppe. Auf dem Absatz drehte ich mich noch einmal um und sagte: »So was passiert mir auch.«
Sie starrte nun hartnäckig auf eine Stelle am Boden, nickte geistesabwesend und sah erbärmlich aus. So verharrte sie. Ich ging die Treppe hinunter und nahm mir vor, eines Tages wiederzukommen und nachzusehen, ob bei ihr alles in Ordnung war.
Und auch wenn ich in irgendeiner Ecke meines Kopfes eine milde Zufriedenheit über meinen Abgang verspürte – er war meiner Meinung nach ziemlich elegant vonstattengegangen –, schien in dem Treppenhaus letzten Endes nichts glattzugehen. Als ich das nächste Stockwerk erreicht und mit den Augen dessen kultur- und bildungsdominierte Türnamen abgegrast hatte, war von oben wieder das nervöse Sekretärinnengeklapper zu hören, das diesmal allem Anschein nach weiterzugehen und auch herunterzukommen schien. Ich weiß nicht warum, vielleicht weil ich die so gequält wirkende Frau nicht weiter behelligen wollte, jedenfalls zog ich mich in die hinterste Ecke zurück, an die Tür des Vereins Rechte Linke e. V., was wohl eine Art Insiderwitz war, der Vereinsname, meine ich, aber ich kam nicht dazu, es näher zu analysieren,denn die Frau näherte sich bereits, und ich musste mit der Tür verschmelzen.
Sie ging vorbei. Ich wartete kurz ab und huschte dann flink in den dritten, wo ich endlich, zwischen Jungsozialisten und Buchbindern, eine Tür mit einem richtigen Nachnamen fand.
»Karkku« war darauf zu lesen.
Ich stand kurz dort im Treppenhaus und imaginierte, wie mein Sohn wahrscheinlich gesagt hätte, den potenziellen Kunden. Bei dem Nachnamen stellte man sich einen ziemlich kleinen, gedrungenen, über und über behaarten Mann vor, der Bäume fällen, Häuser abreißen und Frauen flachlegen kann und sich gern an einem Kiefernstamm reibt, wenn es ihn am Rücken juckt.
Woher das Bild auch kommen mochte, stark war es. Ich drückte jedenfalls auf den Klingelknopf, sie ging schockierend schnell auf, die Tür, und das Bild kaputt.
In der Öffnung, die so jäh in die Wand gerissen worden war, sah man ein Stück Dach- und Himmelspanorama und mittendrin einen in jeder Hinsicht maßlosen Rumpf. Der Mann war sicherlich über zwei Meter zwanzig groß und hätte leicht noch größer sein können, wenn er nicht neben allem anderen so eine bucklige Haltung gehabt hätte. Das andere setzte sich zusammen aus bis auf meine Augenhöhe reichenden, in helle Jeans gestellten, etwas krummen Beinen, aus unglaublich langen Armen, die in werkzeugähnliche Pranken mündeten, und einem ebenfalls riesigen und dennoch unverhältnismäßig kindlichen Kopf, dessen Klobigkeit von einer uralten Brille mit Flaschenbodengläsern und breitem Gestell im TV-Format betont wurde.
Solche Sachen fielen mir auf, obwohl mir beim Anblick derganzen Kreatur so kalt wurde, dass ich nicht anders konnte, als an ihm vorbeizugucken, ein bisschen nach dem Motto, gibt es hinter dem Marktplatz irgendetwas Interessantes. Häuser standen dort.
»Was gibt’s?«, fragte der Riese dann, nicht im eigentlichen Sinn abwehrend oder irgendwie gemein, sondern eher in der Art, als würde es ihn ehrlich interessieren, warum jemand auf die Idee gekommen war, bei ihm zu klingeln. Durch die massiven Gläser sah es aus, als wären seine Augen in unermesslicher Ferne postiert, ein bisschen so, wie wenn man falsch herum durch einen Feldstecher guckt.
Ich räusperte mich ein Weilchen, dann gelang es mir, Guten Tag zu sagen.
»Ja, richtig, guten Tag«, sagte er und fügte hinzu: »Hab ich tatsächlich vergessen. Guten Tag. Was gibt’s?«
»Also, ich bin der Haushalt …«, fing ich mit etwas kindischem Nachdruck an, aber dann tauchte von irgendwoher plötzlich ein Knochen im Hals auf. Das Wort riss in der Mitte ab, zwar flackerte da etwas, aber all das
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