Der Tag der Traeume
Mutter wissen.
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte er trocken. Dann musste er eben Kendalls Gesellschaft genießen, bis ihre Pflichten als Elternersatz sie wieder in Anspruch nahmen. Pflichten, die sie offenbar mit einer größeren Selbstverständlichkeit übernommen hatte, als sie beide vorher gedacht hätten.
Obgleich sie und ihre Schwester einige Probleme hatten, erkannte Kendall instinktiv, was Hannah brauchte. Sie wäre im Stande, dem Mädchen ein wunderbares Leben zu bieten, wenn sie nicht bewusst die Augen vor dieser Tatsache verschließen würde. Sie war eine großartige Schwester und würde eine noch bessere Mutter abgeben. Der Gedanke kam ihm so unverhofft, dass er zu frösteln begann.
Er blickte zu Kendall und Raina hinüber, die über Videos und die Möglichkeit, einen Videorekorder auszuleihen, damit Kendall den Mädchen ein bisschen Unterhaltung bieten konnte, diskutierten. Das breite Lächeln seiner Mutter verriet ihm, wie sehr sie Kendall bereits ins Herz geschlossen hatte. Obwohl er sich bezüglich seiner Freundinnen noch nie von seiner Mutter hatte beeinflussen lassen, war es ihm eine große Beruhigung, dass sie mit seiner Wahl einverstanden war und sich daher keine Sorgen um ihn machen musste, was ihr krankes Herz nur unnötig belasten würde. Diesmal hatte er sie glücklich gemacht. Indem er sich für Kendall entschieden hatte.
Was für eine unglaubliche Ironie des Schicksals! Er war die Beziehung zu Kendall ja anfangs nur eingegangen, um die Pläne seiner Mutter zu vereiteln. Und nun träumte er plötzlich selbst davon, eine Familie zu gründen – ausgerechnet mit der Frau, die er nur als Schachfigur hatte benutzen wollen, um seine Mutter von ihrem Vorhaben abzubringen. Schade nur, dass Kendalls Träume etwas anders aussahen …
Kendall parkte ihr Auto hinter dem Gästehaus und ging zur Vordertür. Schon lange hatte sie keinen so unterhaltsamen Tag mehr verbracht. Und keinen so erfolgreichen, dachte sie lächelnd. Als sie den Reißverschluss ihrer Tasche aufzog, vernahm sie plötzlich ein leises, winselndes Geräusch. Sie blickte sich um, konnte aber nicht feststellen, woher es kam. Achselzuckend stellte sie ihr Köfferchen ab, um in ihrer Tasche nach den Schlüsseln zu kramen, die sie kurz zuvor achtlos hineingeworfen hatte, weil sie erst das Auto ausräumen wollte.
Das Erste, was ihr in die Hände fiel, war die Visitenkarte, die ihr eine Maklerin namens Tina Roberts überreicht hatte. Die junge Frau hatte ein Armband mit Namensschild bestellt und war dann sofort auf geschäftliche Dinge zu sprechen gekommen; hatte Kendall gefragt, was sie mit dem Haus ihrer Tante vorhabe und sich, ohne eine Antwort abzuwarten, wortreich erboten, vorbeizukommen, um den Wert zu schätzen. Dabei hatte sie schamlose Selbstbeweihräucherung betrieben, indem sie sich ihrer zahllosen Erfolge rühmte, und all das, ohne dabei ein Mal Luft zu holen. Kein Wunder, dass sie zur Maklerin des Monats gewählt worden war, dachte Kendall sarkastisch.
Aber sie konnte das Haus nicht zu einem guten Preis verkaufen, wenn es sein Geld nicht wert war, und die Karte der Maklerin rief ihr eine Tatsache ins Gedächtnis zurück, die sie in den letzten Tagen bequemerweise verdrängt hatte. Sie hatte nichts mehr am Haus getan und auch keinen Gedanken mehr daran verschwendet, wie es sich am besten auf den Markt bringen ließ.
Nur zu einer Entscheidung hatte sie sich durchgerungen. Sie würde Pearl und Eldin im Gästehaus unterbringen und vertraglich festlegen, dass die beiden dort ein mietfreies Wohnrecht auf Lebenszeit hatten. Ob sich ein potenzieller Käufer auf so eine Klausel einlassen würde, wusste sie nicht, aber sie wollte das Paar auf keinen Fall vor die Tür setzen. Sie hoffte nur, die beiden würden sich in dem kleineren Haus auch wohl fühlen, wobei es für Eldin mit seinem kaputten Rücken sicher ein Vorteil wäre, keine Treppen mehr steigen zu müssen. Außerdem machte das Gästehaus lange nicht so viel Arbeit …
Aber nach diesem wunderbaren Tag war Kendall einfach nicht bereit, eingehender über den Verkauf des Hauses nachzudenken. Nicht, wo sie gerade zu überlegen begonnen hatte, ob es im Leben nicht noch andere Möglichkeiten gab als vor allen Schwierigkeiten davonzulaufen. Nicht, wo sie gerade damit angefangen hatte, was-wäre-wenn zu spielen.
Nun, sie hatte ja noch Zeit. Kendall schob die Karte in die Tasche zurück und wühlte weiter darin herum. Gerade als sie den Schlüsselbund ertastet hatte, erklang das
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