Der Tag der Traeume
wird.«
»Mutter.« Sanfter Tadel schwang in Ricks Stimme mit. »Kendall hat gerade ihre Tante verloren. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, ihr auch noch Vorwürfe zu machen. Ihre Lebensweise ist allein ihre Angelegenheit.«
Sein Beschützerinstinkt bricht durch, dachte Raina. Obwohl es in Ricks Natur lag, andere in Schutz zu nehmen, schien er Kendall aus rein persönlichen Gründen zu verteidigen. Warme Zufriedenheit stieg in ihr auf, als sie ihren Sohn betrachtete.
»Lass nur, Rick, das macht mir nichts aus. Die wenigsten Leute verstehen meine Art zu leben. Um ehrlich zu sein – ich könnte es vielleicht auch nicht begreifen, wenn ich nicht selbst so leben würde.« Sie lächelte Raina an. »Jemandem, der eine so liebevolle, immer zusammenhaltende Familie hat wie Sie, muss mein Leben ziemlich chaotisch vorkommen.«
»Unsinn. Na ja, ein bisschen schon«, gab Raina zu, die beschlossen hatte, auf Ehrlichkeit zu setzen. Menschen konnten sich schließlich ändern, wenn sie wollten, sie mussten nur einen triftigen Grund dafür haben. »Es wäre schön, wenn du dich von nun an als Mitglied unserer Familie betrachten könntest. Crystal würde sich darüber freuen, und ich mich auch.« Mehr, als Kendall ahnen konnte.
Nach Rainas erstem Eindruck war Kendall Sutton nicht nur bildhübsch, sondern auch warmherzig, mitfühlend und intelligent. Und sie wusste, was sie wollte. Raina vermutete, dass ihre Unabhängigkeit den größten Reiz auf Rick ausübte, der in der letzten Zeit von Frauen, die in der Ehe die Erfüllung ihres Lebenstraumes sahen, auf Schritt und Tritt verfolgt worden war. Daran trug allein sie, Raina, die Schuld, aber zum Glück hatte sich die Situation jetzt grundlegend geändert.
Rick hatte sich offenbar Hals über Kopf in Kendall verliebt, auch wenn er es selbst noch nicht wusste. Vielleicht würde Kendall die Beständigkeit schätzen lernen, die sie als Kind hatte entbehren müssen, wenn man ihr Liebe und Verständnis entgegenbrachte. Und wer war besser dazu geeignet, ihr die Vorzüge eines intakten Familienlebens vor Augen zu führen, als die Chandlers? Allen voran natürlich Rick.
»Das ist lieb von Ihnen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Kendalls Augen leuchteten auf.
»Ich schon. Du bist soeben einer Meisterin ihres Fachs auf den Leim gegangen«, bemerkte Rick trocken.
Raina warf ihrem Sohn einen finsteren Blick zu.
»Welches Fachs?«, erkundigte sich Kendall verwirrt.
»Des Heiratsgeschäfts.«
»Ach ja.« Kendall beugte sich vor und grinste. »Ich habe schon von Ihren Versuchen gehört, sich als Ehestifterin zu betätigen, Mrs. Chandler.«
»Und ich bin über die ungewöhnlichen Umstände deiner Ankunft in unserer schönen Stadt genau im Bilde. Aber jetzt verrate mir doch einmal, warum du dich ausgerechnet in einem Brautkleid auf die Reise hierher gemacht hast?«
»Mutter …«
»Das ist eine berechtigte Frage, Rick.« Kendalls Wangen färbten sich rosig, aber sie schlug sich tapfer. »Ich hätte eigentlich heute Morgen heiraten sollen«, erklärte sie, obgleich es ihr peinlich war, zugeben zu müssen, dass die Hochzeit eine Stunde vor dem Jawort geplatzt war. »Aber mein Verlobter und ich haben erkannt, dass wir kurz davor standen, einen großen Fehler zu machen, und so haben wir uns in aller Freundschaft getrennt.«
Raina war bis zu Johns Tod fast zwanzig Jahre glücklich mit ihm verheiratet gewesen. Sie hätte sich nie vorstellen können, jemanden zu heiraten, den sie nicht liebte oder eine Beziehung so abrupt zu beenden. »Eine Hochzeit so plötzlich abzublasen! Hat er dich etwa betrogen?«, fragte sie empört. Sie fühlte sich in Kendalls Namen verletzt und gekränkt.
Rick versetzte ihr unter dem Tisch einen leichten Tritt.
Kendall schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir waren auch nie leidenschaftlich ineinander verliebt, eher gute Freunde. Er hat mir ein paar Mal aus der Klemme geholfen, mir Modeljobs verschafft, die mir genug einbrachten, um Tante Crystals Pflegeheim bezahlen zu können, und ich hatte das Gefühl, in seiner Schuld zu stehen. Irgendwie sind die Dinge dann aus dem Ruder gelaufen, aber zum Glück konnten wir gerade noch rechtzeitig die Notbremse ziehen. Ich war so erleichtert, dass ich völlig den Kopf verloren habe. Ich bin einfach aus der Kirche gelaufen, habe mich in mein Auto gesetzt und bin losgefahren.«
Eine so spontane Handlungsweise schockierte Raina, die ihr ganzes Leben in ein und demselben Haus verbracht und immer genau das getan hatte,
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