Der Tag der Traeume
entsetzlich einsam und verlassen vor. Nicht nur, dass sie ihre Tante furchtbar vermisste, sie fragte sich auch, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn Crystal sie hätte bei sich behalten können.
Kendall schüttelte unwillig den Kopf. Sinnlos, der Vergangenheit nachzutrauern. Lebe für den Augenblick, das war einer von Tante Crystals Lieblingssprüchen gewesen, den Kendall stets befolgt hatte. Wenn die Erinnerungen sie hier oben auf dem Dachboden zu ersticken drohten, dann würde sie sie einfach dort zurücklassen und in die Stadt fahren, um auf andere Gedanken zu kommen. Entschlossen drehte sie sich um und ging nach unten, um ihre Autoschlüssel zu holen.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als Kendall ihr geliebtes rotes Auto Richtung Innenstadt lenkte. Der VW Jetta hatte ein elektronisches Problem gehabt, das schnell behoben werden konnte, wobei die Reparaturkosten beträchtlich höher hätten ausfallen können. Daher beschloss Kendall, ihre momentane Glückssträhne zu nutzen und sich als Erstes die Haare neu färben zu lassen.
Sie betrat Luanne’s Locks, den Friseursalon, den Raina ihr empfohlen hatte. Der beißende Ammoniakgeruch verschlug ihr den Atem und trieb ihr die Tränen in die Augen. Als sie wieder klar sehen konnte, blickte sie sich suchend um. Pinkfarbene Tapete, burgunderrote Stühle, blitzende Chromteile, blank polierte Spiegel. Ein riesiger gläserner Schaukasten mit Haarpflegeprodukten nahm fast eine ganze Wand ein. Kendall sah sofort die Möglichkeiten, die sich ihr boten. Ihre Schmuckkollektion ließ sich hier optimal zur Geltung bringen – falls die Eigentümerin einwilligte, ein paar Stücke in Kommission zu nehmen.
Kendall hatte schon viele Ladenbesitzer in verschiedenen Städten überredet, ihre Arbeiten auszustellen und hoffte, auch hier Erfolg zu haben. Der Empfang war nicht besetzt, also ging sie weiter in den Raum hinein und blieb vor der Stufe stehen, die den Eingangsbereich vom Arbeitsbereich trennte. Der kleine Salon war voll besetzt, die laute Unterhaltung der Kundinnen klang freundlich, und sie schöpfte neuen Mut.
Nach einem tiefen Atemzug ging sie auf den ersten Stuhl in der Reihe zu. »Entschuldigung, könnten Sie mir wohl sagen, wo ich die Chefin finde?«
»Das haben Sie schon.« Die Friseurin, deren Haar im Stil der 50er Jahre hochtoupiert war, drehte sich mit einem Kamm in der Hand zu ihr um. »Kann ich Ihnen helfen?«
Kendall lächelte. »Ich bin Kendall Sutton, und ich hätte gern einen Termin.«
Ehe die Friseurin antworten konnte, beugte sich eine der Kundinnen in ihrem Stuhl vor und zischte der neben ihr sitzenden, mit Lockenwicklern geschmückten Frau laut und vernehmlich zu: »Das ist Rick Chandlers neue Freundin!«
Die Neuigkeit verbreitete sich blitzschnell im ganzen Salon. Mit einem Mal trat Totenstille ein, alle Augenpaare richteten sich auf Kendall, und keines blickte auch nur annähernd freundlich. Kendalls Hoffnung, mit der Inhaberin ins Geschäft zu kommen, verflüchtigte sich mit samt ihrer Hochstimmung.
Ihr Leben lang war sie immer wieder die Neue gewesen. Sie hatte unzählige Klassenzimmer betreten müssen, ohne einen einzigen ihrer Mitschüler zu kennen, und war meist aus dem Kreis der anderen ausgeschlossen worden. Auf diese Weise hatte sie schon früh im Leben gelernt, nichts auf die Meinung anderer Menschen zu geben. Da sie nie lange an einem Ort blieb, kam es ihr darauf nicht an. Mit sich und der Welt zufrieden zu sein, ein anständiges Leben zu führen und sich selbst morgens im Spiegel anschauen zu können, das war es, was zählte – auch eine von Tante Crystals Weisheiten, die sich Kendall zu Herzen genommen hatte und die sie in Situationen wie dieser immer wieder aufmunterte.
Nur heute klappte es nicht. Kendall begann sich ausgesprochen unwohl in ihrer Haut zu fühlen. Merkwürdig, sie war es doch wirklich gewohnt, von Fremden voll Neugier und Argwohn gemustert zu werden.
»Ihr Haar ist rosa.« Die Feststellung zerriss die Stille im Raum wie ein Peitschenschlag.
Ein halbes Dutzend Augenpaare starrten sie unverändert abschätzend an, und Kendall ballte die Fäuste, weil sie den unwiderstehlichen Drang verspürte, an den pinkfarbenen Strähnen herumzuzupfen. Ihr Magen zog sich zusammen, und ihre Befangenheit wuchs – noch eine neue Erfahrung für eine Frau, die sich noch nie darum geschert hatte, was andere von ihr dachten.
Sie rang sich ein gequältes Lächeln ab und fuhr sich so unbekümmert wie möglich mit der Hand durch das Haar.
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