Der Tag der Traeume
ihr geholfen hatten, ihre eigenen Probleme eine Weile zu vergessen.
»Nun, Kendall, was meinst du denn, wie lange du in der Stadt bleiben wirst?«, fragte Raina – nicht zum ersten Mal.
Kendall wusste allmählich nicht mehr, wie sie unauffällig das Thema wechseln sollte. »Tja, also …«
»Du hast sie jetzt lange genug mit Beschlag belegt«, kam ihr Ricks Bruder Chase zu Hilfe.
Mit seinem pechschwarzen Haar und den blauen Augen ähnelte er weder Rick noch Raina. Wie Kendall gehört hatte, waren Chase und der jüngste, durch Abwesenheit glänzende Bruder Roman Ebenbilder ihres verstorbenen Vaters. Doch Andeutungen zufolge übten alle drei Chandler-Brüder eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf das andere Geschlecht aus. Chase war nur zurückhaltender als die beiden anderen.
»Ach, Chase, gönn mir doch ein paar Minuten mit Crystals Nichte. Ich unterhalte mich so gerne mit ihr.«
»Du quetschst sie aus wie eine Zitrone, wolltest du wohl sagen.« Chase stieß ein abfälliges Schnauben aus, darin nahm er Kendall am Ellbogen. »Und deswegen entführe ich sie dir jetzt erst mal für eine Weile.« Ohne die Antwort seiner Mutter abzuwarten zog er Kendall mit sich.
»Noch ein Chandler, der gern den Retter in der Not spielt?« Sowie sie allein waren, zwinkerte Kendall ihm schelmisch zu.
Chase verdrehte die Augen gen Himmel. »Um Gottes willen, nein, das ist Ricks Job. Ich habe nur gesehen, wie meine Mutter dich nach allen Regeln der Kunst in die Zange genommen hat und beschlossen, dich zu erlösen.« Er lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand und musterte sie aus seinen kühlen blauen Augen durchdringend.
Wenn sie nicht auf seinen Bruder fliegen würde, hätte sie durchaus Gefallen an ihm finden können, dachte Kendall. »Danke für die Atempause. Und jetzt erzähl mir doch ein bisschen was über dich. Du arbeitest für die hiesige Lokalzeitung, nicht wahr?«
»Für die Gazette. «
Er schob die Hände in die Hosentaschen; eine Geste, die sie so sehr an Rick erinnerte, dass sie lachen musste. »Ach ja. Ein Wochenblatt, stimmt’s?«
Chase nickte.
Im Gegensatz zu Rick war dieser Bruder eher wortkarg. Trotzdem mochte Kendall ihn, schon allein, weil er seine Geschwister großgezogen hatte, was auf ein gutes Herz schließen ließ. Noch etwas, was er mit seinem Bruder gemein hatte. Kendall blickte zu Rick hinüber, der sein Handy ans Ohr presste und beim Sprechen mit einer Hand durch die Luft fuchtelte. Sie grinste. Er schien rund um die Uhr im Dienst zu sein. Sie bewunderte Menschen, die dermaßen in ihrem Job aufgingen. Nein, korrigierte sie sich, sie bewunderte einfach diesen Mann.
»Häng dein Herz lieber nicht zu sehr an ihn«, unterbrach Chase das Schweigen.
Kendall zwinkerte und wandte sich wieder zu ihm um; peinlich berührt, weil er sie dabei ertappt hatte, wie sie Rick anstarrte. »Das habe ich auch nicht vor«, versicherte sie ihm hastig. Dennoch wollte sie wissen, warum er sich verpflichtet fühlte, sie zu warnen. Verlegen biss sie sich auf die Lippe. »Möchtest du mir verraten, warum nicht?«
»Eigentlich nicht.« Er betrachtete sie mit unergründlicher Miene. »Aber ich tue es trotzdem. Sobald Rick befürchtet, er könnte ernsthafte Gefühle für dich entwickeln, wird er die Schotten dicht machen,«
»Wegen seiner ersten Ehe?« Die Worte waren heraus, ehe sie überlegen konnte. Sie bezweifelte, dass der älteste Chandler mit ihr über die Vergangenheit seines Bruders sprechen würde.
Tatsächlich wurden seine Augen schmal. »Hat dir Rick Näheres darüber erzählt?«
Kendall brachte keine Lüge über die Lippen, noch nicht einmal, um an Informationen zu kommen, die Rick ihr wohl freiwillig nie geben würde. »Nein, er hat nur Andeutungen gemacht.«
Chase nickte verständnisvoll, die Furchen auf seiner Stirn glätteten sich. »Lass es mich so ausdrücken – wenn einem Mann ein Mal von einer Frau so übel mitgespielt worden ist, wird er dazu neigen, in Zukunft auf Nummer Sicher zu gehen.«
Das also steckte dahinter. Kendall hatte so etwas schon geahnt. Bei der Vorstellung, irgendjemand – vor allem eine Frau – könne Rick so verletzt haben, blutete ihr das Herz.
Chase musterte sie mit einem so stahlharten Blick, als versuche er, ihren Charakter einzuschätzen. Er schien mit sich zu ringen, ob er noch mehr zu dem Thema sagen sollte.
»Und?«, drängte sie, weil sie nicht wollte, dass er aus Rücksicht auf sie schwieg oder die Dinge beschönigte. Aber ihr Instinkt sagte ihr, dieser
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