Der Tag der Traeume
klang, als käme das Geräusch direkt aus ihrem Hinterhof.
Ihr war sofort klar, dass etwas nicht stimmte, und sie konnte sich auch ziemlich genau vorstellen, was passiert war. Sie rannte zum Fenster, stieß die hölzernen Läden auf und sah gerade noch ihr rotes Auto von der Auffahrt auf die Straße abbiegen.
»Verdammt nochmal, Hannah!« Nackte Angst ergriff von Kendall Besitz. Ohne zu überlegen griff sie nach dem Telefon. Ihr Zahlengedächtnis ließ sehr zu wünschen übrig, und sie kannte Ricks verschiedene Nummern immer noch nicht auswendig, also wählte sie 911 und wurde mit dem Yorkshire Falls Police Department verbunden. »Officer Rick Chandler, bitte. Es handelt sich um einen Notfall.«
Während sie wartete, trommelte sie mit den Fingern nervös auf ihrem Nachttisch herum.
»Officer Chandler am Apparat.«
Ricks Stimme beruhigte sie augenblicklich. »Rick, ich bin’s, Kendall. Hannah hat mein Auto genommen. Sie ist erst vierzehn. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt fahren kann, und ich möchte nicht, dass sie einen Unfall baut oder verursacht, und ich habe keine Ahnung, wo sie hin will. Ich meine, sie kennt doch hier nichts und niemanden.« Entnervt fuhr sie sich mit der Hand durch das Haar. »Ich selbst kenne hier ja kaum Leute. Na ja, ein paar mehr als Hannah schon, aber …«
»Kendall, beruhige dich erst einmal.« Ricks feste Stimme bremste ihren unzusammenhängenden Redefluss.
»Entschuldige.« Sie zwinkerte und stellte verblüfft fest, dass ihr eine Träne über die Wange rann. »Tut mir Leid, aber ich bin völlig fertig. Sie hat sich den ganzen Abend in ihrem Zimmer eingeschlossen, und ich dachte, sie würde auch da bleiben. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, die Autoschlüssel zu verstecken. Himmel, sie ist doch erst vierzehn!«
»Schon gut. Ich kümmere mich darum, okay?«
Kendall nickte leise schniefend und bemerkte dann, dass er aufgelegt hatte, ohne ihre Antwort abzuwarten. Ihr sollte es recht sein. Besser, er suchte nach Hannah, statt wertvolle Zeit damit zu verschwenden, sie zu trösten. Und wenn er ihre Schwester heil und gesund nach Hause brachte, würde ein Donnerwetter auf den kleinen Satansbraten herabprasseln, das sich gewaschen hatte.
Morgen früh würde sie als Erstes eine Buchhandlung oder die Leihbibliothek aufsuchen, um sich einen Ratgeber für den Umgang mit nicht zu bändigenden Teenagern zu besorgen.
Achtes Kapitel
Ricks Dienst war gerade zu Ende gegangen, als ihn Kendalls Notruf erreichte. Obwohl er wieder einmal beschlossen hatte, sich gefühlsmäßig nicht zu sehr auf sie einzulassen, beabsichtigte er nicht, auch eine physische Distanz zu wahren. Dazu lag ihm zu viel an ihr, und dazu war er zu gern mit ihr zusammen.
Er ließ den Streifenwagen stehen und fuhr mit seinem eigenen Auto kreuz und quer durch die Stadt, um nach Kendalls vertrautem roten Jetta Ausschau zu halten. Obgleich er nicht viel von Hannah wusste, erkannte er in ihr einen zornigen Teenager, wie er in dem DARE-Kurs schon einige gesehen hatte. Er würde nicht zulassen, dass sich Kendall und Hannah immer weiter voneinander entfernten, bis die Kluft unüberbrückbar wurde.
Da er keine Ahnung hatte, wo er Hannah suchen sollte, begann er auf der First Avenue, und als er sie dort nirgendwo entdecken konnte, dehnte er seine Suche auf die Gegend um die Edgemont Road aus, von wo aus sie losgefahren war. Die Grundschule lag eineinhalb Blocks von Crystals – jetzt Kendalls – Haus entfernt, und als er auf den Parkplatz einbog, war er nicht überrascht, dort ein diagonal zwischen zwei Parkbuchten abgestelltes einsames rotes Auto vorzufinden.
Er hielt neben dem Jetta und stieg aus. Als einziges Zugeständnis an seinen Job nahm er die Taschenlampe aus dem Handschuhfach mit, schaltete sie ein und ließ den Lichtstrahl über das Schulgrundstück tanzen. Als er bei den Schaukeln am Fuß des Hügels eine Bewegung bemerkte, hielt er inne. Scheinbar steckte doch noch viel Kindliches in Hannah, und zu diesem Kind in ihr musste er durchdringen, wenn er sie dazu bringen wollte, ihrer großen Schwester eine Chance zu geben.
Während er über die Rasenfläche auf die Schaukeln zuging, atmete er ein paar Mal tief durch. Der Duft von frisch gemähtem, taufeuchtem Gras brachte ihm Erinnerungen an seine eigene Zeit an dieser Schule zurück, denen er einen Moment lang nachhing, ehe er sich wieder auf die vor ihm liegende Aufgabe konzentrierte.
»Hi, Hannah«, rief er laut, damit sie nicht dachte, ein Fremder hätte sie
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