Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
schrecklich!“
Behutsam drückte die junge Frau Mrs. Mallon die Hände, die diese vor dem Gesicht zusammen geschlagen hatte.
„Ist ja schon gut. Meine Güte, Sie zittern ja! Was in Gottes Namen ist denn nur passiert? Geht es Stef… Mr. Eckkamp gut?“
„Oh Miss Watson, es ist schrecklich! Der Friedhofsverwalter hat ihn heute Morgen gefunden!“
Emily spürte, wie sie weiche Beine bekam. Ihr Kopf war plötzlich vollkommen leer und sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Jede Bewegung schien sinnlos, ohne Bedeutung. Während sie so dastand und versuchte, die Nachricht zu verarbeiten, kam ein Officer der Londoner Polizei die Treppe hinauf.
„Mrs. Mallon, haben Sie… ist sie das? Sind Sie Miss Watson?“
Mit leerem Blick starrte Emily den Beamten an und vergaß, zu nicken.
„Miss? Ist Ihr Name Emily Watson? Mrs. Mallon sagte uns, dass Sie Mr. Eckkamp gestern Abend noch gesprochen haben.“ Er zögerte einen Augenblick, bevor er weiter sprach, nun etwas sanfter, als er Emilys graue Gesichtsfarbe bemerkte.
„Miss Watson, es tut mir sehr leid, aber Sie sind offensichtlich die Letzte, die den Mann lebend gesehen hat. Können wir uns kurz unterhalten?“
Mrs. Mallon hatte ihre Fassung wieder gefunden und herrschte den Officer nun wütend an.
„Meine Güte, sehen Sie denn nicht, dass das arme Ding unter Schock steht? Rufen Sie lieber einen Arzt! Die Nachricht hat sie ja völlig aus der Fassung gebracht!“
Zum Glück der Hauswirtin ließ Emily sich anstandslos die Treppe hinunter und in den Salon bringen, wo Mrs. Mallon sie auf das gemütliche Sofa verfrachtete und ihr einen Sherry in die Hand drückte. Als Emily keine Anstalten machte, die scharfe Flüssigkeit zu trinken, führte die alte Dame ihr das Glas eigenhändig zum Mund, bis Emily es schließlich doch trank.
Eine Sekunde später kehrten ihre Lebensgeister ein wenig zurück. Sie musste von der Schärfe des Alkohols in ihrer Kehle husten, sah Mrs. Mallon dann aber endlich direkt an.
„Stefan Eckkamp ist tot?“ Die alte Dame nickte und bedeutete dem Officer, dass ein Arzt wohl doch nicht von Nöten war.
„Wie ist er gestorben? Haben Sie ihn in seinem Bett gefunden?“
Mrs. Mallon runzelte die Stirn. „Nein, Liebes. Ich sagte doch eben , d er Friedhofsverwalter hat ihn gefunden. Auf dem Highgate Friedhof. Unversehrt bis auf eine kleine Wunde am Hals. Man kann noch nicht sagen, was seinen Tod ausgelöst hat.“
Der Officer kam schnell hinzu und fing sie auf, als Emily lautlos nach vorn sackte und von der Couch kippte.
Gegen alle Proteste stand Emily am frühen Nachmittag schon wieder auf. Der Polizeibeamte hatte sie nach ihrer Ohnmacht auf ihr Zimmer getragen und ins Bett gelegt, wo Mrs. Mallon mit Argusaugen über sie wachte, bis die junge Frau schließlich eine Stunde später die Augen wieder aufschlug. Emily sagte niemandem etwas davon, doch seit die Hauswirtin den Zustand des Toten erwähnt hatte, war sie davon überzeugt, dass Stefan am Vorabend gegen jede Regel der Vernunft Recht gehabt haben musste , auch wenn ihr Verstand sich nach wie vor dagegen sträubte . Und sie war fest entschlossen, das Rätsel zu lösen, das ihre Mutter ihr aufgegeben hatte. Doch dazu musste sie schnellstmöglich in ihr Elternhaus und nach weiteren Hinweisen suchen. Auf keinen Fall konnte sie aber riskieren, noch jemandem davon zu erzählen. Die Gefahr, dass der Friedhofsverwalter die nächste Leiche fand, war ihr zu groß, auch wenn ihr schleierhaft war, wie jemand wissen konnte, was sie Stefan erst wenige Stunden zuvor anvertraut hatte , und wer dieser Jemand war . Die junge Frau spürte, wie langsam Übelkeit in ihr aufstieg. Sie hatte den Tod eines Menschen verursacht. Noch wusste sie nicht, wie, doch es stand außer Zweifel, dass Stefan Eckkamp ihretwegen sterben musste, und die Schuldgefühle schienen ihr die Luft zum Atmen zu nehmen. Sie konnte einen Schluchzer nicht unterdrücken, als sie am Waschbecken stand und sich, tief in diese trübsinnigen Gedanken vertieft, etwas frisch machte. Als Prudy Mallon besorgt den Kopf zur Tür herein steckte, winkte Emily nur dankend ab.
Sie wusste nun mit Sicherheit, dass sie in einem Alptraum gelandet war, aus dem sie durch Davonlaufen nicht wieder heraus käme. Sie musste ihm begegnen und aus der Welt schaffen, was immer ihre Familie seit Generationen zerstörte.
Da sie sich sowieso nicht aufhalten ließ, bot ihr der Polizeibeamte, der vor ihrer Ohnmacht versucht hatte, sie zu befragen an, sie mit seinem
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