Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
wäre viel mehr Zeit seither vergangen. Die Bürsten und Nagellacke auf dem Frisiertisch, Jugendbücher und Kuscheltiere im Regal, Gesellschaftsspiele, Poster von längst nicht mehr aktuellen Popgruppen, getrocknete Blumen aus dem Garten und Schuhe, die ihr wahrscheinlich längst nicht mehr passten. All das gehörte in ein anderes Leben. Es gehörte einem Mädchen, das es nicht mehr gab. Emily war erwachsen geworden und hatte in einem anderen Teil der Welt ein anderes, besseres Leben gefunden.
Einmal mehr wünschte sie sich nach New York zurück. Sie wollte sich in ihrer Wohnung verstecken, wollte an ihrem neuen Roman arbeiten, sich auf den Unterricht mit ihren Schülern vorbereiten oder einfach durch die Straßen der Stadt schlendern und das Gefühl genießen, dazu zu gehören.
Emily seufzte und verließ das Kinderzimmer. Als nächstes betrat sie das Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie hoffte, dort auf etwas zu stoßen, was sie bei der Beantwortung all ihrer Fragen weiter brachte. Doch sie fand nur das Übliche: Kleidung, Parfum, alte Ansichtskarten, Schuhputzzeug. Nur der Inhalt der kleinen Nachttischschublade erweckte schließlich ihr Interesse: S ie enthielt das Tagebuch ihrer Mutter.
Emily setzte sich auf das Bett, dessen Matratze unter ihrem Gewicht ins Bodenlose sackte. Die junge Frau schüttelte den Kopf. Sie hatte nie verstehen können, wie ihre Mutter in einem derart weichen Bett schlafen konnte, ohne erhebliche Rückenschmerzen davon zu tragen.
Gespannt schlug sie das Tagebuch auf.
Was sie zu finden gehofft hatte, konnte Emily selbst nicht sagen, doch sie wurde in jeder Hinsicht enttäuscht. Nachdem sie die Notizen ihrer Mutter eine Weile durchgeblättert hatte, war sie genauso schlau wie vorher. Es schien nur die normalen Sorgen einer Hausfrau und Mutter zu enthalten. Als sie das Tagebuch entmutigt zurücklegte, fiel ihr ein großer Schlüssel auf, der in der Schublade unter dem Buch gelegen hatte und von ihr fast übersehen worden wäre .
Sie nahm ihn aus der Schublade heraus und betrachtete ihn eine Weile. Von einem Schrank konnte er nicht sein, dafür war er zu groß. In Gedanken stellte sie sich sämtliche Möbelstücke und Türen in dem Cottage vor, musste aber alle Möglichkeiten ausschließen.
Bis ihr ein Gedanke kam. Schnell stand sie vom Bett auf, trat in den Flur und sah zur Decke hinauf. Und tatsächlich: D ie Speicherklappe besaß ein Schloss, das von seiner Form her durchaus passen konnte. Emily holte sich schnell die kleine Trittleiter aus dem Badezimmer und versuchte dann, die Speicherklappe aufzuschließen. Sie hatte den Speicher niemals betreten, weil er immer verschlossen war. Das fiel ihr erst jetzt wieder ein.
Aufgeregt schritt sie langsam die kleine Leiter wieder herunter und zog dabei an dem großen Haken in der Speicherklappe, bis sie schließlich auf ging und Emily nach einiger Kraftanstrengung die alte, zusammengeklappte Leiter herunterziehen konnte , die innen auf der Klappe befestigt war .
Modriger Geruch schlug ihr von oben entgegen, und Emily beschloss, zunächst einen Besen zu holen und die gröbsten Spinnweben zu entfernen. Sie war nicht scharf darauf, wie eine Filmheldin die alten Weben zu durchschreiten, ohne mit der Wimper zu zucken.
Nach wenigen Minuten war sie schließlich mit dem Besen und einer Taschenlampe zurück und stieg vorsichtig die Leiter hinauf, nachdem sie rund um die Öffnung herum sauber gemacht hatte. Zu ihrem Glück fand sie, oben angekommen, direkt neben der Luke an einem Balken einen Lichtschalter. Eine nackte Glühbirne flammte auf und tauchte den überraschend großen Raum in milchig-staubiges Licht.
Um sich in Ruhe umsehen zu können, schritt Emily kurz den Raum ab, ohne auf den Inhalt zu achten, entfernte zunächst sämtliche Spinnweben und tötete mit heftigen Besenstößen die Spinnen, die zu fliehen versuchen. Dabei schüttelte sie sich vor Ekel, denn manche der überraschten Tiere waren riesig und verdammt flink. Als sie es endlich geschafft hatte und sich relativ sicher war, vo n weiteren lebendigen Überraschungen verschont zu bleiben , sah sie sich um. Der Speicher war während ihrer Kindheit ausgebaut worden , sie konnte sich vage daran erinnern . Uralter Holzboden knarrte unter ihren Schritten, und die Wände waren, wenn auch kahl, doch gut isoliert. Es war hier nicht kälter als unten im Haus, und auch Geräusche drangen nur gedämpft durch das Dach.
Irgendwie hatte Emily gehofft, einen uralten Schaukelstuhl, Kostüme vergangener
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