Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
Dienstwagen nach Fulham zu fahren. Unter der Bedingung, dass sie ihm nun einige Fragen beantwortete.
Emily stimmte zu. Sie beließ es bei ihrem Bericht dabei, dass sie gemeinsam auf ihrem Zimmer zu Abend gegessen und Emily sich dem Deutschen über den Verlust ihrer Mutter anvertraut hatte. Nach einer tröstenden Geste hatte Stefan Eckkamp dann ihr Zimmer verlassen. Und war für immer aus ihrem Leben verschwunden.
Der Officer fand keinen Grund, der jungen Frau nicht zu glauben, und setzte sie schließlich vor dem gut gepflegten Cottage ab, als er sein Verhör gerade beendet hatte.
„Passen Sie auf sich auf, Miss Watson. Was auch immer letzte Nacht passiert ist… seien Sie auf der Hut.“
Emily nickte. Der Blick des Beamten verriet ihr, dass auch ihm die Todesumstände von Stefan Eckkamp nicht geheuer waren .
Das Cottage lag still und verlassen da. Der weiße Gartenzaun, der das Grundstück umspannte, schien vor nicht allzu langer Zeit gestrichen worden zu sein, und der Garten, der zwischen dem Zaun und dem Haus lag, war sehr gepflegt. Der Rasen hatte unter dem herbstlichen Wetter bereits etwas gelitten und war teilweise von nassem Laub bedeckt, doch die Rosen standen noch üppig in voller Blüte, und die Büsche waren frisch beschnitten. Die Erbin des Hauses vermutete, dass ein Nachbar sich um alles gekümmert hatte, damit Emily das Cottage in einem ordentlichen Zustand vor fand.
Ihre Mutter war eine ordnungsliebende Frau gewesen, und so überraschte es nicht, dass alles an seinem Platz war und kaum Staub auf den Möbeln und dem Boden lag, als die junge Frau das Cottage betrat und sich mit bedächtigen, fast unsicheren Schritten ein wenig umsah.
Kindheitserinnerungen stürmten auf sie ein, als ihr bewusst wurde, dass seit damals fast nichts verändert worden war. Der Kaminsims verschwand beinahe unter der Masse an Fotos von ihr, Emily. Sie trat ein Stück näher heran und betrachtete die hübsch gerahmten Bilder; Schnappschüsse aus ihrer Kindheit, auf denen auch ihr Vater zu sehen war. Wie gebannt starrte Emily darauf. Emma Watson hatte die Bilder versteckt, als ihr Ehemann verstarb . Ihre Tochter hatte sie bis jetzt nie mehr zu Gesicht bekommen. Es waren fast ausschließlich Szenen aus dem Garten: ein Grillabend, den sie zusammen veranstaltet hatten, als Emily fünf war; S ie konnte sich noch daran erinnern. Sie waren eine kleine, glückliche Familie gewesen. Ein anderes Foto zeigte Emily mit dicken, langen Zöpfen an ihrem ersten Schultag. Sie lachte fröhlich in die Kamera, doch die kleinen Augen verrieten, dass das Glück trügerisch war. Schon an diesem Tag hatte sie gespürt, dass sie den anderen Kindern unheimlich war. Es wurde viel getuschelt, und auch die anderen Eltern sahen ihre Mutter und ihren Vater merkwürdig an.
Die anderen Fotos kannte Emily: Szenen aus dem Alltag und Erinnerungen an gemeinsame Ausflüge von ihr und Emma, die ihre Mutter als glückliche Momente festzuhalten versucht hatte. Das Bild ganz rechts auf dem Sims war entstanden, wenige Wochen, bevor sie das Land verließ: Emily trug einen nagelneuen Hosenanzug, den ihre Mutter ihr für Bewerbungsgespräche gekauft hatte. Sie hatte noch nie etwas so Schickes und Elegantes getragen, deswegen hatten sie das Foto gemacht. Es sollte ein Symbol für ihren Eintritt ins Arbeitsleben sein. Damals hatten sie noch nicht gewusst, dass sich ihre Stellensuche als derart schwierig erweisen würde .
Als sie nach New York abreiste, ließ sie den Hosenanzug im Kleiderschrank hängen.
Einem plötzlichen Instinkt folgend machte die junge Frau sich auf den Weg nach oben, in ihr altes Zimmer. Sie musste scharf einatmen, denn der kleine Raum sah noch genauso aus wie früher , und auch der Duft, der ihr entgegenschlug, war derselbe wie früher, nach Frühlingsblumen, Büchern und dem immer selben Waschmittel . Die helle Blümchentapete, das weiße Bettgestell mit den hohen Kopf- und Fußteilen, der weiß lackierte, alte Kleiderschrank… sie öffnete die Tür. Tatsächlich, der Hosenanzug hing noch dort. Ebenso ihr Abschlussballkleid, ein hellblauer Fetzen mit viel zu viel Tüll, der ihr nur eins eingebracht hatte: einen ganzen Abend auf der Bank an der Seite der Turnhalle, in der der Ball stattgefunden hatte, zusammen mit den anderen Mauerblümchen der Schule.
Emily lief unvermittelt ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie all die vertrauten Gegenstände betrachtete, die sie vor sechs Jahren zurück gelassen hatte. Es fühlte sich an, als
Weitere Kostenlose Bücher