Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Ausländerfeindlichkeit kann und darf sich unser Land nicht leisten. Sie trägt nichts, aber auch gar nichts zur Lösung unseres Problems bei. Sie lenken mir viel zu sehr ab, meine Herren.«
Er kippte die Füße unter dem Stuhl auf die Außenkante und ließ die Beine locker auseinanderfallen wie ein Schuljunge, der kippelt. Die Jacke war schon völlig zerknautscht in der Gürtelzone. Die anderen Herren waren sichtlich irritiert. Man ruderte herum. Julius Turnseck wurde unduldsam. Er nahm die Bemerkungen und Fragen der anderen komplett auseinander und widerlegte sie. Er ließ sich von den provozierend überspitzten Fragen der drei Moderatoren nicht aus der Ruhe bringen.
Er nannte sich liberal im klassischen Sinn. Sollte in etwa heißen: Der-Markt-regelt-alles, unterwandert allerdings von einer etwas anarchischen Gesamtanschauung von verblüffender Logik und moralischer Verbindlichkeit. Er trug einen auf Taille geschnittenen dunkelbraunen Anzug. Er war ungefähr so groß beziehungsweise klein wie Opa, er war sehr schlank, und er saß aufrecht und entspannt zugleich. Er zog immer wieder einen regelrechten Flunsch. Er hatte – das konnte ich sogar von Weitem sehen – große hellgraue Augen. Augen wie Scheinwerfer. Sie fielen auf meine grünen. Ich merkte das. Ich befand mich in seiner Blickeinflugschneise, und die ganze Zeit saß ich kerzengerade auf meinem Stuhl und fieberte dem Augenblick entgegen, in dem ich etwas Supergescheites fragen dürfte und er und alle mich im Fernsehen sehen würden.
Das fiel dann ja leider aus. Tja.
Aber es machte nichts.
Ich amüsierte mich, und ich würde genug zu erzählen haben.
Zum Beispiel vom Büfett. Danach gab es nämlich ein Büfett, für alle. Meine Mutter und ich machten oft Büfetts, für die Partys im Club und die Partys bei den Clubmitgliedern zu Hause. Ich hatte in meinem Leben schon ungefähr dreieinhalbtausend runde Kanapees aus Weißbrot mit Hilfe eines Cognacschwenkers ausgestochen und war von meiner Mama jedes Mal angeranzt worden, wenn noch ein Restchen dunkler Toastrand zu sehen war. Ich hatte ungefähr siebenhundert Silbertabletts mit Kanapees auf weißen Papierdeckchen mit ausgestanztem Zierrand anderen Menschen unter die Nase gehalten, in der linken Hand die Servietten dazu.
Damals, in der Zeit der Kanapees, tobte der Kampf um die Startbahn West, den neuen Flughafen bei Frankfurt am Main. Die Ökobewegung steckte in ihren Kinderschuhen, rannte aber, wie Kinder es eben tun, galoppmäßig los. Ich war dabei. Argumentierend. Diskutierend. Lesend. Brot und Kekse backend, in der Ökobäckerei, für den Dritte-Welt-Markt, der nach Vanilletee und Haschisch roch und unseren Wahnsinnskeksen, mit Nüssen und Hafer und Rosinen und einem einzigartigen Geschmack, an den ich mich erinnere, wenn ich heute auf dem Weihnachtsmarkt Früchtebrot kaufe. Der Duft von Früchtebrot erinnert mich an das Leben unter der Militärjunta in Chile, die Armut in Mexiko und den Analphabetismus in Peru, Dinge, über die wir aufgeregte Gespräche mit lateinamerikanischen Exilanten auf dem Dritte-Welt-Markt führten. Er erinnert mich an Küsse, langsam fallenden Schnee und kratzige braune Pullis aus Alpakawolle mit eingestrickten weißen Alpakas.
Es gab aber ein Problem für mich. Es gab immer ein Problem für mich. Meine halbe Schule fuhr zu den Demos, gegen die Startbahn West. Nur ich nicht. Ich fuhr nach der Schule zu Opa, der mit einer schweren Lungenentzündung oder einer anderen Opakrankheit im Krankenhaus lag, und dann in den Club, helfen. Keine Zeit für Demos. Mittagessen servieren, abwaschen, Kaffeegeschäft bewältigen.
So war ich immer ein bisschen draußen. Doch um ehrlich zu sein, hatte ich auch immer Angst vor Massenaufläufen. Dafür ging ich, so oft ich konnte, zu meinen Marx-Bäckern. Und wenn ich bei den Partys den Leuten Lachs- und Kaviarbrötchen hinhielt, schwitzte meine Mutter in der Küche:
» Wehe, du agitierst!«
» Wehe, du agitierst!«, sagte sie jedes Mal, wenn sie mir die Schleife der kleinen weißen Servierschürze auf dem Rücken zuband.
» Na, Helen«, sagte Herr von Ribbentropp, den ich seit Kindertagen kannte, » bist du gar nicht in Frankfurt?«
» Nein«, lächelte ich, und die Männer gackerten anzüglich, und ich hielt ihnen das Silbertablett mit den Kanapees hin.
Deeskalation, dachte ich, nur nicht provozieren lassen. Denk an Mama. Und an Mata Hari. Mata Hari würde keine Miene verziehen.
Mata Hari half mir, meiner Mama ein Opfer zu
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