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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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abschließbaren Schränken, einer sirrenden Belüftung und ohne Kaffeeautomat, weshalb Helen sich eine Thermoskanne mit Tee mitgebracht hatte.
    Sie fühlte sich schwach; es gab etwas an diesen Recherchen, das sie entmutigte. Die Realität, von der sie wusste, dass sie zerstörerisch war, und zwar nicht auf dem Papier, hatte auf den Papieren etwas grenzenlos Irreales. Sie bekam diese Spanne nicht zu greifen. Wenn sie nun tatsächlich den Auftraggebern auf die Spur kam, die hinter Julius’ Mord gesteckt hatten? Man hatte sich so schnell darauf geeinigt, dass es ein linksextremes Attentat gewesen war, warum konnte sie es nicht dabei belassen? Sei sachlich, sagte sie sich selbst, wozu haben wir dich Politologie studieren lassen? Was hatte sie dort gelernt? Immer musst du fragen: Welchen Interessen dient welche Handlung?
    Sie las weiter. Ihr sträubten sich die Nackenhaare bei der Lektüre. Nicht schlapp machen, sagte sie sich. Das Unsystematische war ja geradezu ihr Steckenpferd. Sie war die Mata Hari der Papiere. Sie war spezialisiert auf anonyme Autoren des achtzehnten Jahrhunderts, sie würde doch wohl herausfinden, wer der Unterzeichner des Kreditvertrages war, wer Julius abgehört hatte und wer welche Interessen hatte.
    Helen fasste für sich selbst zusammen, was sich aus den einzelnen Texten für sie erschließen ließ. Die theoretische Neuorientierung in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre wurde notwendig, um die Autorität des Großen Bruders nicht zu untergraben, der Sowjetunion. Das Problem mit der Sowjetunion bestand darin, dass Gorbatschow mit Perestroika und Glasnost alles zu verändern versuchte, was die linientreuen » Stasilinge«, wie man sie sogar intern nannte, mit Entsetzen sahen. Offiziell konnte man es sich jedoch nicht leisten, gegen die Sowjetunion zu opponieren. Was tun? Die Hardliner des Zentralkomitees der SED mussten ideologisch offenbar irgendwie beruhigt werden; sie stuften Polen mittlerweile als konterrevolutionär ein. Die » Koalition der Vernunft« war die geistige Grätsche, die Kreditaufnahmen und Verhandlungen mit dem Westen rechtfertigen sollte.
    Einige Hardliner hätten die finanzielle Abhängigkeit vom Westen gern geleugnet, obwohl sie rein praktisch und rein privat schon eine ordentliche Menge des Staatseigentums für sich persönlich auf Konten im Westen hatten fließen lassen. Das war es also, was Antje-Doreen das doppelte Bewusstsein genannt hatte: eine Art doppelte Buchführung.
    Es gab aber auch Hardliner, die härter waren als alle. Sie versuchten, gegen ihre Vorgesetzten zu arbeiten (doch auch sie waren später erstaunlich gut finanziell abgesichert). Die Hardliner hatten jahrzehntelang an den Sozialismus geglaubt und an ihrer Position in diesem gearbeitet. Sie hatten Agenten als Schläfer in allen Bereichen der NATO , insbesondere in Westeuropa und in der BRD , untergebracht. Sie hatten alles daran gesetzt, Einfluss auf linke Bewegungen zu nehmen und westliche, im Ostblock stationierte Journalisten ideologisch zu lenken und zu instrumentalisieren. Sie hatten ihre besten Leute für einen Sondereinsatz ausgebildet, falls die Bundesrepublik versuchen sollte, mit Hilfe der NATO die DDR zu besetzen. Man bereitete Einzelkämpfer vor und platzierte sie. Informelle Mitarbeiter wurden in Institutionen und große Firmen im Westen eingeschleust.
    Helens Herz klopfte schneller. Ganz unscheinbar und beiläufig, in Klammern gesetzt, entdeckte sie die Information, dass ein IM Zugang zu Dokumenten der Girozentrale der Deutschen Aufbau in Frankfurt am Main gehabt hatte. Ein IM in der Deutschen Aufbau! Ein Mann? Eine Frau? Vielleicht eine Bankangestellte? Eine Sekretärin? Was für Dokumente waren das? Ein IM in Julius’ Bank.
    Helen wurde hektisch; aufgeregt blätterte sie weiter und las. IM Nora tauchte auf, immer wieder wurde IM Nora genannt. Helen blätterte zurück: Auch Thiel, der Helen hier wiederholt begegnete, bezog sich auf Informationen von Nora. Nora war sehr gut informiert, offensichtlich eine brillante Analystin mit vielen Kontakten in den Westen, der man vertraute.
    Die » Killertruppe«, wie man die Spezialagenten des Chefs der Staatssicherheit, Mielke, im Osten wie im Westen inoffiziell nannte, verbesserte in den Achtzigerjahren ihre Ausbildung und schärfte die Geheimhaltung. Auch auf der technischen Ebene hatte man sich » weiterentwickelt«, wie es hieß, und arbeitete an der Verbesserung des Sprengwesens; Helen fand den Hinweis auf eine Liste mit Objekten auf dem

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