Der Tag ist hell, ich schreibe dir
die Spannung im Saal unermesslich. Alle starrten ihn an; die anderen Vorstandsmitglieder der Deutschen Aufbau wechselten die Gesichtsfarbe.
» Meine Zeit ist knapp bemessen, ich muss mich kurz fassen. Ich habe gestern ein sehr langes Gespräch mit dem Präsidenten Mexikos geführt. Ich muss Ihnen keine Zahlen nennen, Sie alle hier sind vom Fach. Ich möchte Ihnen nur ein Argument nennen, das der Präsident so auf den Punkt gebracht hat: Ein toter Schuldner ist gar kein Schuldner. Ein verhungerter Schuldner ist gar kein Schuldner. Denn sein Land ist so ausgeblutet, dass es unsere Zinssätze und die Schulden, die es bei uns hat, nicht mehr bezahlen kann. Es wird ohne unsere Hilfe untergehen. Meine Damen und Herren, ich plädiere hiermit an die internationale Gemeinschaft der Banken, schützen wir die betroffenen Länder vor allzu krassen Zinsausschlägen. Meine Bank möchte einen Ausgleichsfonds einrichten. Ich würde sogar vorschlagen, noch weiter zu gehen und über Folgendes grundsätzlich einmal nachzudenken: Erlassen wir Mexiko und einigen anderen Ländern einen Teil ihrer Schuld. Verzichten wir, soweit wir es uns leisten können. Auch wir haben von einer solchen Haltung einmal profitiert. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!«
Der Aufruhr im Saal war unvorstellbar. Sechzig Personen redeten gleichzeitig. Die Löffel für das Dessert blieben liegen. Einige Männer verließen den Saal, um in den Redaktionen in Deutschland anzurufen oder die Nachricht über den Ticker weiterzuleiten, dass einer der mächtigsten Bankiers Europas vorgeschlagen hatte, auf das Rückfordern von Schulden zu verzichten.
Jonathan Kepler hatte die halbe Rede mitgeschrieben. » Ich muss ein Interview mit ihm machen!«, sagte er zu Carsten Willms, der die Szenerie beobachtete. » Das gibt Ärger«, sagte er, » das kann nur Ärger geben.«
Am Tisch des Vorstands redeten alle auf Julius Turnseck ein. Sie waren offensichtlich nicht auf das vorbereitet gewesen, was er gesagt hatte.
Die ersten Journalisten erhoben sich, um Fragen zu stellen.
» Was denkt Ihre Bank darüber?«
» Wie wollen Sie die Verluste auffangen?«
» Machen Sie sich damit nicht Feinde bei den amerikanischen und japanischen Banken, die noch sehr viel höhere Kredite an die Dritte Welt erteilt haben als die Deutsche Aufbau oder die Bundesrepublik überhaupt?«
» Wie kommen Sie zu einem solchen Ansatz? Steckt dahinter der Versuch, amerikanische Banken zu Rücklagen zu zwingen, die sie bisher nicht gebildet haben?«
» Wird nicht als Nächstes der gesamte afrikanische Kontinent vor der Tür stehen?«
» Bitte, Herr Lowitz, was sagen Sie zu diesem Vorstoß Ihres Kollegen? Gehen Sie d’accord?«
» Heißt das, Sie reden einer völligen Entschuldung der Dritten Welt das Wort? Wie soll das gehen? Untergräbt dies nicht die Zahlungsmoral aller anderen Schuldner?«
» Verstößt dies nicht gegen ein ehernes Gesetz aller Banken?«
» Herr Turnseck: Haben Sie vor, den Beruf zu wechseln?«
Wenn Jonathan Kepler später versuchte, sich den genauen Ablauf vor Augen zu führen, sah er immer wieder einen wild gewordenen Haufen von Männern in dunklen Anzügen vor sich. Die Fragen wurden zum größten Teil abgewimmelt, wenn nicht Julius Turnseck selbst zu Wort kam, was seine Kollegen zu verhindern suchten. Es waren fünfzehn Minuten dafür vorgesehen, doch nach zwei Minuten machte Ernst Lowitz eine unwirsche Handbewegung und Anstalten, den Saal zu verlassen; er sprach etwas zur Seite, offenbar forderte er seine Kollegen dazu auf, mit ihm zu kommen.
Jonathan Kepler sprang von seinem Platz hoch. Der Tumult war seine Chance. Er preschte nach vorn, stellte sich vor Julius Turnseck, der ihm zwei Köpfe größer vorkam als er selbst, und sagte: » Herr Turnseck, ich komme vom tag aus Berlin, würden Sie mir vielleicht ein paar Fragen beantworten?«
Julius Turnseck sah den Mann, der vor ihm stand, an.
» Vom tag, sagen Sie?
» Ja.«
» Warum nicht? Kommen Sie.« Und zu Jonathan Keplers Verblüffung zog er ihn in eine Ecke des Saals, die sich schon etwas geleert hatte. Auf den Tischen standen halb ausgetrunkene Weingläser, Wasserkaraffen und Aschenbecher, benutzte Tuchservietten lagen dazwischen. Julius Turnseck machte keine Anstalten sich zu setzen, also packte Jonathan Kepler sein Kassetten- und Aufnahmegerät aus. » Einen Augenblick, bitte«, sagte er. Er zitterte etwas. Er hielt dem Bankier das winzige Mikrofon hin, er wollte es ihm nicht ans
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