Der Tag ist hell, ich schreibe dir
angerufen, um dich wenigstens kurz zu hören, wenn du schon in der Nähe bist.«
» Pass auf dich auf, Helen«, sagte er leise, und dann etwas lauter: » Ja, vielen Dank! Ich melde mich dann!«
7
Sechs, sieben Jahre, die wir uns kannten.
Es ist schöner dich zu kennen als dich nicht zu kennen, heißt es in einem Liebesgedicht von Nicolas Born. Es ist schön, gegen alle Vernunft oder sonst etwas einen Menschen zu lieben. Marx hin, Kapital her. Gute Dialektiker bilden immer das Dritte. Dich faszinierten Umstrukturierungen von ganzen Wirtschaftszweigen; in der Weltraumtechnik sahst du den medizinischen Fortschritt und in der Rüstungsindustrie eine Notwendigkeit des Kalten Kriegs; du glaubtest an die Theorie der Abschreckung, an die meine Generation nicht mehr glaubte. Wir spielten Kalter Krieg. Wir kannten keine Bombennächte, wir kannten nur die Beschädigungen unserer Eltern. Ein Teil von uns, jedenfalls.
» Er hat ja recht bescheiden gelebt, in seinem Haus, das war ja eher eine Hütte, das war ja keiner, der protzte«, sagte einer deiner ehemaligen Mitarbeiter zu mir, am Telefon.
Du bist so aufgewachsen, es war alles da, nicht zu viel, genau so, dass du dir darüber nicht den Kopf zerbrechen musstest. Du hattest den Kopf frei für andere Dinge; so etwas prägt. Du hast versucht, etwas daraus zu machen. Nein, Reichtum hat dich nicht interessiert. Vielleicht hat das deine Kollegen geärgert.
Fünf, sechs, sieben Jahre …
Als Helen in jenem Jahr zu Weihnachten mit ihren Eltern die Ferien in den Bergen in Österreich verbrachte, wurde sie in dem kleinen, familiären Hotel, in das sie seit ihrer Kindheit regelmäßig fuhren, zweimal quer durch den Speisesaal gerufen, Helen, ans Telefon, ein Herr Turnseck will dich sprechen! Der halbe Speisesaal hatte sich umgedreht, als man den Namen hörte. Der? Helen hatte es Julius gleich erzählt, als sie in der Sprechkabine neben der Rezeption mit ihm sprach, den alten, schwarz glänzenden Hörer ans Ohr gepresst, das Rauschen und Knacken des Ferngesprächs in der Leitung. Jeder kennt dich, sagte sie, selbst Leute, die sich nicht für Wirtschaft interessieren.
Jonathan Kepler gewann seine Wette; Julius wurde zum alleinigen Vorstandssprecher der Deutschen Aufbau ernannt, als Ernst Lowitz aus dem Vorstand ausschied. Nun fuhr er ohne ihn nach Moskau. Gorbatschow zeigte sich von ihm begeistert; Pia reiste mit ihm; in der Presse wurde ein Foto mit ihr und Raissa Gorbatschow neben den beiden Männern veröffentlicht. Julius unterzeichnete Kreditverträge in Milliardenhöhe, mit seinem Füllfederhalter.
Er hatte in Amerika, Kanada und in England exzellente Fusionen mit inländischen Banken vorangetrieben und war in der Branche hoch angesehen. Sein Konzept, eine Bank müsse vor Ort sein, um die Projekte ihrer Kunden gut zu begleiten, hatte Erfolg gebracht; das Wachstum der Bankgewinne aber war das beste Argument. Selbst sein unorthodoxer Vorschlag, die Dritte Welt ein wenig von ihren Lasten zu befreien, konnte die Zahlen nicht entkräften.
» Er ist gut für das Ansehen unserer Bank«, hatte Ernst Lowitz gesagt, als es um die Nachfolge ging.
» Er hat die Kraft, die Bank zu modernisieren«, hatte Carl Joachim ihm zugestimmt, » auch wenn es uns schwer fällt zu akzeptieren, dass wir als Bankiers nicht mehr still im Hintergrund agieren.«
» Ich halte nichts von dieser ständigen Sucht nach Öffentlichkeit«, hatte Heinrich Baumann gesagt.
Julius hatte es Helen erzählt. Heinrich Baumann wäre selbst gern nachgerückt. Hinter Julius’ Rücken lästerte er über sein Wort von der Transparenz, die den Menschen die Arbeit der Bank verständlich machen sollte; ein Kollege hatte es Julius zugetragen.
» Wozu sollte das gut sein?«, fragte er ihn einmal in offener Runde. » Das Bankgeheimnis hat doch jahrhundertelang getragen, warum sollte das jetzt anders sein? Es ist doch nichts als pure Eitelkeit.«
» Weil die Zeiten sich geändert haben«, sagte Julius. » Weil die Zeiten demokratischer geworden sind, weil die Leute jede Form von Autorität infrage stellen, weil sie die Macht, die wir als Banken haben, kritisieren. Wir müssen ihnen offenlegen, welche Interessen wir verfolgen.«
» Ach, das ist doch alles Moralaposteldenken! Sie glauben doch nicht etwa, dass die Leute uns akzeptieren, wenn sie sehen, dass wir in die Rüstung investieren?«
» Wenn wir ihnen vermitteln, dass wir damit den technischen Fortschritt meinen, wenn wir klarmachen, dass wir nicht wollen, dass
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