Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Xochipilli
Der Gott der Spiele und der Tänze
Im Kleid der prächtigsten Vögel
Der Gott des Regens
Schöner ist mein Kleid aus Fetzen
Als dein Anzug grau in grau
Groß war die Pracht meines Landes
Auf dem du nun stehst
Sieh mich an
Sieh hierher
Jetzt stinken Gifte hier zum Himmel
Die Menschen gehen voller Vergessen
Die Herrschenden verkaufen unsere Länder
Zerstört wird unser Regenwald
Dein Plastikmüll nährt meine Kinder
Ich stehe hier mein Kleid ist prächtig
Auch wenn es längst in Fetzen
An mir hängt
Auf der Straße steht sie, nicht weit vom Palast des Präsidenten. Nicht jeder kann sie sehen. Sie sieht alles, durch alle Jahrhunderte hindurch. Sie weiß, was die Menschen denken, hier. Sie weiß, dass die Zeiten sich ändern, dass ihr Land sich sammelt, ansetzt zu einem gewaltigen Sprung und Kräfte freisetzen wird, die sie spürt, wie eine unterirdische Ader, die sie bewacht. Sie wartet. Er wird in der Limousine des Präsidenten um die Ecke biegen. Sie muss alle Kräfte auf ihn lenken, alle ihre Gedanken müssen ihn erfassen. Sie setzt ihre Hoffnung in ihn. Er kommt aus der Neuen Welt geflogen, mit den Wolkenkratzern und einer niemals zu stillenden Eroberungslust, in eine Welt, die uralt ist, voller Geheimnis, Chaos und Leid, und auf eigene Weise unendlich reich.
Frei aber einsam, denkt es in Julius Turnseck, im Anflug auf Mexico-City, die Zeile aus dem Brief von Brahms, den Helen für ihn abgetippt hat, auf ihrer klappernden Schreibmaschine. Es war die Devise von Joseph Joachim, dem Geiger, mit dem Brahms als junger Mann eng befreundet gewesen war, die Devise, die er in seinem Streichquartett a-Moll, opus 51, eingearbeitet hatte, in der Kantilene der ersten Violine, Frei aber einsam, f a e – eine Musik, die er gut kennt, die in ihm klingt, im Lärm der Turbinen des landenden Flugzeugs, und er sieht unter sich, riesig, fantastisch, fremd: Mexiko.
Die Gnome meiner Albträume
Tragen Strumpfhosen aus Nylon
Über ihren Kopf gezogen
So kann ich nicht atmen
Ich werde wie sie
Gestank verpestet unsere Stadt
Zerfrisst allmählich unsere Paläste
Meine Hände werden Krallen
Müde kaure ich am Wegrand
Meine Füße werden Pfoten
Nur einen Helm aus Gold trag ich
Zum Schutz Du kennst mich
Ich trete auf in deinen Träumen
Der Bankier rollt im lärmgeschützten, klimatisierten Wagen durch die Straßen einer kreischenden, schmutzigen, riesigen Stadt, die von einer niemals weichenden Smogwolke durchdrungen ist. Die Luft ist dünn hier, denn die Stadt der Städte liegt auf einer Höhe von 2300 Metern über dem Meeresspiegel. Er fährt an Slums vorbei, die das Stadtbild unterbrechen, Blechhütten auf Müllhalden, Menschen in armseligen Kleidern, Kinder, die barfuß herumspringen, mit schmutzigen Gesichtern am Bordstein hocken und im Dreck spielen, er denkt an Jessica, seine Tochter, er sieht fantastische Bauten in barockähnlichem Stil, mit weißen Verzierungen, die abbröckeln, koloniale Wohnhäuser, deren Balkone halb heruntergerissen sind, er sieht Kirchen, die ihn an Europa erinnern und doch anders aussehen, Wolkenkratzer, die keine fünf Jahre alt sind, daneben zusammengeschusterte Baracken und Unrat, er sieht teure Geschäfte neben fliegenden Händlern und Leuten, die auf der Straße Essen anbieten, aus dampfenden Blechtöpfen, er sieht Kinder, die an den Ampeln ans Auto stürzen, um zu betteln, ihre Gesichter drücken sich ans Glas der Limousine, er sieht farbenfrohe Kleider, Frauen mit stolz erhobenen Köpfen, VW -Käfer als Taxen, denen der Beifahrersitz fehlt, er sieht eine wilde, laute Stadt.
Ich bin Frau Tod
La cavalera genannt
Bestickt ist mein Kleid
Mit glänzenden Pailletten
Grünlich gelb ist mein altes Gesicht
Mein Lächeln lässt dir das Blut gefrieren
Dein Name sei Fremder
Grau ist dein Anzug
Du sollst mein Bräutigam sein
Da kommt der Mann, ich sehe ihn –
Der Wagen, der geschickt wurde, um den Bankier vom Flughafen zu holen, hält vor dem Palast des Präsidenten an einem weiten Platz, dem Zocalo. Ein riesiges altes Gebäude, zweihundert Meter lang, das Julius Turnseck an Venedig erinnert. Ein Mann in Livree öffnet ihm die Tür. Julius verlässt die Limousine, er knöpft sein Jackett in der Taille zu, eine Gewohnheit, er spürt den heißen Wind, der ihm ins Gesicht schlägt, er wird geblendet von gleißend hellem Sonnenlicht und ist wie betäubt von durchdringenden, scharfen, fremden Gerüchen und dem tosenden Lärm, der ihn auf einmal umgibt, doch ihm ist, in
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