Der Tag ist hell, ich schreibe dir
am Abend oder um sechs Uhr dreißig aß Pia mit dem Kind in der Küche zu Abend. Es war ein Mädchen; sie saß auf einem durch ein Kissen erhöhten Stuhl. Sie sah ihrer Mutter ähnlich. Sie lachten oft zusammen und sprachen lebhaft miteinander.
Gabriel mochte diese Augenblicke nicht; er mochte es, wenn Pia allein in die Küche kam. Wenn sie dort längere Zeit zu tun hatte.
Wenn er sie nicht sah, kam er sich nutzlos vor.
Nach etwa drei Wochen glaubte Gabriel zu bemerken, dass Pia seine Gegenwart wahrnahm. Ihre Bewegungen wurden nervöser, manchmal neigte sie völlig unbegründet den Kopf zur Seite, als lauschte sie.
An manchen Tagen, vor allem am Wochenende, wenn der Wind entsprechend stand, konnte Gabriel ein Klavier hören. Die konzentrierten Übungen einer erwachsenen Person, das unruhige Probieren und Klimpern des Kindes. Dann stieg eine sonderbare Wut in ihm hoch, und er sah sich als Jungen, in der Küche seiner Mutter, die sich eine Zigarette zwischen die Lippen schob, das Haushaltsgeld wieder und wieder zählte und fluchte. Die sich am Samstagabend die Haare aufdrehte, ihren Bauch im eng anliegenden Kleid einzog und ihm einen Kuss auf die Wange gab und fortging, zum Tanzen, ohne seinen Vater, der lieber auf dem Sofa saß, ein paar Biere trank und sich die Sportschau ansah. Der, wenn die Mutter spät nach Hause kam, aufgedreht, zerzaust, mit glänzenden Augen und einer leichten Fahne, sie beschimpfte, um sie anschließend unter schwerem Stöhnen im elterlichen Schlafzimmer flachzulegen. Du musst sie als Mann richtig rannehmen, sagte er manchmal zu Gabriel, am Sonntagmorgen, wenn die Mutter noch im Bad rumorte, sonst verlieren sie den Respekt. Du musst ihnen zeigen, wer du bist, sagte er auch im Hinblick auf Gabriels Lehrer. Und er zeigte es Gabriel selbst, indem er ihn immer wieder einmal anbrüllte, ihm eine Ohrfeige verpasste oder den Gürtel benutzte, weil Gabriel zwei Minuten zu spät vom Fußballplatz gekommen war, weil Gabriel sehnsüchtig auf das Klavierspiel im Radio gelauscht hatte, beim Wunschkonzert, das seine Mutter regelmäßig hörte und dass er Rockmusik hin, Rockmusik her, immer noch gern mithörte, auch mit siebzehn noch, oder wenn er zu lange über seinen Hausaufgaben gesessen hatte, du brauchst zu lange, du musst an die Luft, du wirst zu weich, oder einfach so, irgendwann, weil es wichtig war, ihn zu überraschen, ihm zu zeigen, dass er niemals sicher sein konnte. Hart wie Kruppstahl, lachte der Vater manchmal, nach der Sportschau, nach dem Krimi, nach der fünften Flasche Bier.
Liquidieren, dachte Gabriel, der es hasste, wenn diese Bildfetzen ungefragt in ihm entstanden. Den besten Augenblick feststellen für eine effektive Liquidation.
Er würde sich weiter ausbilden lassen. Die Agenturen der ganzen Welt brauchten einen neuen Typ des Agenten, hatte Millner, der Leiter des letzten Lehrgangs gesagt, mit mehr Bildung und Kultur. Sollen wir jetzt ins Theater gehen oder was?, hatte einer gefragt. Nein. Machen Sie sich mit Sprengstoffarten, Waffentypen und Methoden vertraut, Menschen ohne Nachweis und Spuren zu liquidieren. Erkennen Sie, von welcher Agentur welche Art von Notizen und Hinweise kommen könnten. Unterscheiden Sie am Sprachgebrauch, ob Sie einen verdeckten Ermittler vor sich haben oder einen Vermittler – er lachte blöd über seinen eigenen schwachen Witz –, und üben Sie, das Maul zu halten.
Der Termin, den man Gabriel genannt hatte, Anfang Oktober, wurde verschoben. Eine Terroristin sollte aus dem Gefängnis entlassen werden, Annette S. Man hatte sich auf einen Tag in zeitlicher Nähe zu ihrer Entlassung geeinigt, vermutlich im November.
Die Leibwächter kamen jetzt immer häufiger mit ins Haus. Sie saßen dann den ganzen Abend in der Küche, aßen Schnitten und Buletten und tranken Coca-Cola oder Tee aus einer großen weißen Kanne. Zweimal fuhr der Wirtschaftsminister vor, mit seinen eigenen Leibwächtern, die dann mit in der Küche saßen, und einmal der Kanzler.
Jetzt wäre es effektiv, zwei auf einen Streich, dachte Gabriel an diesem Abend, während er den Schal gegen die Kälte vor den Mund zog und leise die Beine bewegte, wie ein Läufer vor dem Start.
Gabriel glaubte, dass Pia Turnseck etwas spürte. Etwas an ihren Bewegungen war noch einmal verändert; nun sah sie sich manchmal um, bevor sie das Haus betrat oder wenn sie in die Küche kam; sie sah sogar aus dem Fenster hinaus, zu ihm hin. Einmal zuckte er zusammen, so direkt schien sie zu ihm hinzusehen. Doch
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