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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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» dass es für uns Jüngere normal ist, dass es die DDR gab und gibt. Wir kennen das nicht anders. Wir erinnern uns nicht an ein ungeteiltes Deutschland; wir kennen es nur aus den Geschichten unserer Eltern und Großeltern. Im Jahr vor meiner Geburt ist die Mauer gebaut worden. Die DDR ist ein eigenes Land für mich, mit einer eigenen Literatur, für die ich mich allerdings sehr interessiere.«
    » Soll das heißen«, fragte Julius Turnseck und verzog seinen Mund in die trotzige Stellung, die ich von der Talkshow kannte, » dass Sie es akzeptieren, dass es immer zwei deutsche Staaten geben wird?«
    » Ach, wissen Sie«, sagte ich ohne Zögern, » da mache ich mir gar keine Gedanken. Das wird sich doch von selbst erledigen. Die Mauer fällt, noch in diesem Jahrhundert, da wette ich drauf.«
    Julius Turnseck fiel fast vom Stuhl. » Wie kommen Sie denn darauf?« Er musterte mich jetzt zwischen Unglauben, Entsetzen und Misstrauen. Ich ahnte, was er dachte. Die tickt ja nicht. Ich war selbst überrascht, dass ich es einfach so sagte. Aber es war genau das, was ich dachte.
    » Die Stimmung der Leute«, antwortete ich, » ihre Lustlosigkeit, das System mitzutragen, der Unmut über alles, was nicht geht. Ich habe es ja bei meinen Verwandten gesehen, sie sind unzufrieden. Meine Tante und mein Onkel erzählen immer, was sie alles nicht machen können, was sie alles nicht bekommen, sie erzählen, dass sie der Sozialismus überhaupt nicht interessiert, null. Sie finden es ganz entsetzlich, wenn ich mit Marx ankomme, und sagen dann immer, Kindchen, leb du mal drei Wochen hier, dann vergisst du deinen Marx aber ganz schnell. Das muss man doch ernst nehmen. Sie sind eingesperrt. Und die Leute werden immer jünger. Meinen Sie, wenn schon die Jugendlichen in Moskau westliche Rockmusik und unsere Mode wollen, wollen die Jugendlichen in der DDR das nicht? Die sind doch viel näher dran. Die haben doch keinen Bock mehr auf Mangelwirtschaft und Reiseverbot und Bücherverbot und ich weiß nicht was. Was erwartet sie denn schon groß?«
    Julius Turnseck saß mir gegenüber und starrte mich ungefähr so an wie ich die Pin-ups in der Markthalle. Ich konnte sehen, wie es in ihm arbeitete.
    » Nein«, sagte er, » ich kann mir das nicht vorstellen. Die Sowjetunion ist zu mächtig, sie wird es nie gestatten, auch nur einen Fitzel ihres Einflussbereichs aufzugeben.«
    » Sie machen doch Wirtschaftsverträge«, sagte ich, » das wird doch auch einiges ändern.«
    Er sagte einen Augenblick gar nichts.
    » Im Grunde«, fing er dann langsam an, als dächte er laut, » ist die Freizügigkeit der Wirtschaft vielleicht das einzige Mittel, den Leuten Freiheit zu bringen.«
    » Na ja«, sagte ich, » das ist mir jetzt zu eng gedacht.«
    » Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«, rief Jonathan Kepler.
    » Ich habe es aufgeschrieben, soll ich es Ihnen zeigen?«
    » Nein, nein.« Er schüttelte den Kopf.
    » Als Julius Turnseck und ich uns schon länger kannten, kamen wir immer wieder darauf zu sprechen. Ich musste ihn über viele Dinge auf dem Laufenden halten, die ich in der DDR beobachtete und die ich über sie las. Als die Mauer schließlich fiel, rief er mich sofort an. Er war sehr bewegt am Telefon. Außerordentlich bewegt.«
    Es war klar, dass Julius Turnseck seine kleine Kassandra wiedersehen wollte. Aber auch Kassandra, die eigentlich Mata Hari hieß, wollte ihren Bankier wiedersehen, denn kein einziger erwachsener Mensch hatte sich jemals so für das interessiert, was sie zu erzählen hatte. Keiner mit einem solchen Horizont, der von Moskau bis New York reichte. Er war ja auch der Erste mit einem solchen Horizont, den sie kennenlernte. Trotzdem sah die kleine Kassandra genau, wo die Grenzen dieses Horizontes lagen. Sie stießen an ihre eigenen, sodass es sich bei einer weiteren Annäherung um die Verschiebung dieser Grenzen und die möglichst große Ausdehnung zweier vielschichtiger Welten handeln würde. Das gefiel ihr. Sie hatten es noch dazu ausgesprochen lustig miteinander. Sie redeten sich die Köpfe heiß und lachten ausgelassen über die Scherze, die sie sich gegenseitig zuwarfen. Er war ganz offensichtlich entzückt, wie rücksichtslos sie ihre Ansichten vertrat und wie unbefangen sie fragte, und bald vergaß sie, sich zusammenzunehmen, und zappelte auf ihrem Stuhl wie immer. Er wiederum lümmelte geradezu, natürlich im Rahmen, streckte die Beine vor, verschränkte die Arme oder hielt mit den Händen den Tisch fest, als wollten sie zusammen

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