Der Tag ist hell, ich schreibe dir
je«, sagte Helen und spürte nun endgültig Tränen aufsteigen. Um es zu verbergen, beugte sie sich unter den Tisch und zog ihre Stiefel aus.
» Sie studiert«, sagte er, » Englisch und Geschichte, aber ich weiß es nicht sicher.«
» Das ist ja schrecklich«, sagte Helen und kam wieder hoch.
» Ja.«
Sie schwiegen. Helen nahm Julius Turnsecks Hand, wie sie es bei ihrer Freundin auch getan hätte. » Es tut mir leid. Das ist sicher nicht leicht.«
Julius Turnseck räusperte sich. Er zog am Knoten seiner dunkelblauen Krawatte, die perfekt gebunden war. Er presste die Lippen zusammen, zögerte, dann setzte er an. » Ich war fast zwanzig Jahre mit meiner ersten Frau verheiratet, Brigitte. Ich habe sie während des Studiums kennengelernt. Sie hat meine Karriere unterstützt, aber es ist ihr irgendwann alles zu viel geworden. Ich war immer seltener zu Hause, und wenn ich kam, hatte ich meine Aktentasche dabei und musste weiter arbeiten, oft bis in die Nacht hinein. Sie hat zuerst nie geklagt, und als ich zur Deutschen Aufbau kam, hat sie sich gefreut. Susanne war noch klein, und Brigitte war glücklich mit dem Kind; doch je älter Susanne wurde, je weniger sie ihre Mutter brauchte, desto mehr fehlte ihr etwas. Sie hat immerzu auf mich gewartet. Ich sagte ihr, sie solle sich doch eine Beschäftigung suchen, aber sie wollte es nicht. Ich erzähle das jetzt alles im Nachhinein, damals habe ich es gar nicht mitbekommen. Am schlimmsten war es, als wir für ein Jahr nach Boston zogen; Brigitte fühlte sich absolut fremd, was nicht an der Sprache lag. Für mich war es eine hochspannende Zeit; ich erfuhr viel über das amerikanische Bankensystem. Ich glaube, je faszinierter ich von allem war, desto wütender wurde sie auf mich. Das habe ich, wie gesagt, erst später begriffen. Als wir zurückkamen, wurde sie immer reservierter mir gegenüber, aber ich habe es weggeschoben. Mein Beruf hat mich immer mehr in Anspruch genommen. Und eines Tages, ohne Vorankündigung, sagte sie mir, ich solle ausziehen, und sie wolle die Scheidung. Es kam wie aus heiterem Himmel für mich.«
Julius Turnseck holte tief Luft und machte eine Pause. Das Tageslicht wurde langsam heller und fiel auf sein Gesicht, es leuchtete unnatürlich auf. Die Falten um seine Mundwinkel traten schärfer hervor, und auch die so oft in Helens Anwesenheit lachenden Augen zeigten eine Spur ungehaltener Bitterkeit. Etwas, das Helen schwer zu orten wusste; etwas, das ihn kränkte, über das Verlassenwordensein hinaus, als ob diese private Unordnung seinen Sinn für Perfektion beleidigte und zugleich mit tiefer Melancholie erfüllte. Dass nicht alles mit der Vernunft zu regeln war, wie er es doch eigentlich dachte, oder als hätte er es versäumt, rechtzeitig alles mit der Vernunft zu regeln. Der Mann, der immer glasklar wirkte und so, als hätte er alles im Griff, breitete zerbrochene Teile seines Lebens auf dem Tischtuch vor ihr aus, und Helen saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und hörte zu.
» Ja«, sagte er, wie zu sich selbst. » Heute klingt es so einfach und nachvollziehbar. Damals habe ich mich immer nur gewundert, weshalb wir uns nicht mehr verstanden. Ich war ständig gereizt.«
» Wie alt war Ihre Tochter da?«
» Vierzehn. Sie war vierzehn. Sicher ein schwieriges Alter«, fügte er hinzu, » für eine Trennung der Eltern, meine ich.«
» Jedes Alter ist schwierig«, murmelte Helen.
Sie hatte mit wachsender Beunruhigung zugehört. Helen wusste viel von Eltern, die sich zankten, wenn ihr Vater das Essen nicht schnell genug hinaustrug oder irgendetwas im Geschäft nicht so lief, wie es nach Helens Mutter hätte laufen müssen. Sie kannte es, wenn ihre Mutter nachts müde und erschöpft von den Hauspartys nach Hause kam und jammerte, dass ihr Vater kein Hotel mit ihr hatte aufmachen wollen, wo sie jetzt schon lange im Bett liegen und träumen könnte, und sie kannte es, dass ihre Mutter ihren Vater manchmal fürchterlich anzischte, wenn er zu viel rauchte und vor Nervosität nichts mehr auf die Reihe brachte, sodass Helen sich die Ohren zuhielt und weinen wollte. Und sie kannte Eltern, die abends friedlich nebeneinander fernsahen und im Winter in den Ferien Eisstock schossen und miteinander tanzten und lachten. Ihre Eltern waren immer zusammen, denn sie arbeiteten zusammen. Helen wusste wenig von Paaren wie Julius Turnseck und seiner Frau, obwohl sie vermutlich wie die meisten anderen Menschen lebten, vor allem, wenn die Frauen nicht arbeiteten. Ein
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