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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Augenblick übersteigerter Wahrnehmung ließ Helen die einzelnen Züge seines Gesichts gekrümmt, gedehnt, in jedem Fall wie überzeichnet sehen, die Nase, die hellen Augen, den schmallippigen Mund, wie das Bild eines Malers, in dem sich alles versammelte, das im Leben dieses Menschen heikel und schmerzhaft war. Es bedrängte sie, und es brannte sich in ihr Gedächtnis.
    » Wir sollten lieber von Ihnen reden«, sagte Julius Turnseck plötzlich.
    » Nein, nein«, sagte Helen, » ich möchte das jetzt wissen, bitte!«
    » Nein, nein, das ist doch alles nicht wichtig. Ich belaste Sie nur mit meiner Vergangenheit, das will ich gar nicht!«
    » Doch«, insistierte Helen, » wir haben es nun einmal angefangen. Ich erzähle Ihnen doch auch alles von mir.«
    Er zögerte und schob die kleine weiße Vase mit den gelben Tulpen auf dem Tischtuch hin und her. Dann gab er sich einen Ruck.
    » Sie warf mich aus dem Haus. Ich war so verwirrt, dass ich mir weder eine andere Wohnung suchen wollte noch in ein Hotel ziehen.«
    » Nein«, sagte Helen. » Sie hat Sie aus dem Haus geworfen?«
    Er nickte, beschämt.
    » Was haben Sie gemacht? Sind Sie zu einem Freund gezogen?«
    » Nein«, lachte Julius Turnseck auf, » ich habe mir ein Klappbett in der Bank aufstellen lassen.«
    » Was? In der Bank?« Helen starrte ihn an.
    » Ja«, sagte Julius Turnseck, » ein Feldbett. Was brauchte ich schon? Meine Frau hatte recht, im Grunde brauchte ich nur ein paar Hemden zum Wechseln, ein paar Stunden Schlaf und meine Akten.«
    » Wie kann man denn in einer Bank übernachten! Das ist ja entsetzlich!«
    Julius Turnseck musste lächeln. » Sie finden mein ganzes Leben vermutlich entsetzlich.«
    » Na ja«, machte sie.
    » Es hielt ja nicht lange an. Die Leute in der Bank fanden es natürlich völlig inadäquat. Ich war in einer so schlechten Verfassung, mir war alles egal. Ich wollte auf keinen Fall in ein Hotel. Ich hätte das Gefühl gehabt, die fremden Menschen hätten mir mein Unglück ansehen können. Frau Osthaus suchte mir eine Wohnung in der Nähe der Bank. Sie redete mir gut zu. Sie machte hinter meinem Rücken sogar Termine mit Bekannten aus, die mich hin und wieder abends zum Essen einluden. In der Bank gab es einen riesigen Zirkus; es gehörte sich nicht, sich scheiden zu lassen. Für Sie ist das sicher seltsam, heutzutage sieht man diese Dinge entspannter, aber damals – ich hätte beinahe gehen müssen.«
    Helen war fassungslos. Julius Turnseck redete auf eine Weise mit ihr, wie niemals zuvor jemand mit ihr gesprochen hatte, auch wenn sie im Golf Club einiges mitbekommen hatte.
    » Ich hatte Glück. Der Mann, der mich ganz am Anfang zur Bank geholt hatte, Carl Joachim, stand mir zur Seite. Bitte, Helen, lassen Sie mich von etwas anderem reden, es war eine grässliche Zeit für mich, und es ist ja nun schon einige Jahre her. Ich war ein Jahr lang nur traurig und –« er zögerte, setzte neu an. » Alles wurde wieder gut, als ich Pia kennenlernte. Pia ist so ein lustiger, lebensfroher Mensch. Als ich sie traf, war alles wieder in Ordnung. Mein ganzes Leben war wieder in Ordnung. Seit ich sie kenne, will ich alles besser machen.«
    Helen sah ihn nachdenklich und verwirrt an. Eine einfache Geschichte, hundert Mal erzählt, doch Helen war einundzwanzig und sie kannte diese Geschichten noch nicht. Es arbeitete schwer in ihr. Seltsamerweise dachte sie plötzlich von Julius Turnseck als von einem Erwachsenen, einer Spezies, von der sie sich meilenweit entfernt fühlte. Die Erwachsenen waren ihr schon immer sonderbar vorgekommen, aber er hatte wirklich eine besorgniserregende Art, von seinem Leben zu reden. Und dann die Vorstellung, wie er in der Bank hauste, völlig verwahrlost, Helen war höchst irritiert von allem. Sie wusste nicht, wie sie anknüpfen sollte.
    » Was ist mit« – sie zögerte es, den Namen auszusprechen – » Susanne geworden?«
    » Ich habe mich nicht um sie gekümmert«, sagte Julius Turnseck.
    » Mh«, machte Helen, » nicht schön.« Sie wiegte ihren Kopf hin und her, sie konnte nichts dagegen machen, und zog die Stirn in Falten.
    » Nein, nicht schön. Ich weiß. Ich bereue es bitter. Vor allem, seit Jessica da ist. Ich würde gern alles wieder anders haben, aber Susanne blockt.«
    » Deshalb wollen Sie also alles von mir wissen«, sagte Helen grübelnd, langsam. Irgendwie machte sie der Gedanke unglücklich; sie konnte es sich nicht erklären. Das Ei lag wie ein Stein in ihrem Magen, und dazu drückten Kaffee und

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