Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Orangensaft auf ihre Blase, aber sie konnte doch in einem solchen Augenblick nicht einfach aufstehen und vom Tisch fortgehen.
» So ist es nicht«, sagte Julius Turnseck und griff nach Helens Hand, die ganz kalt geworden war. » Es ist vielleicht ein bisschen so, weil ich von Ihnen natürlich Sachen erfahre, die Susanne auch beschäftigen. Aber zugleich ist es ganz anders. Ich interessiere mich für Sie, ich würde es auch tun, wenn ich keine Tochter in Ihrem Alter hätte, und ich denke an Sie überhaupt nicht so wie an eine Tochter –«
» Aber Sie kritisieren mich wie eine!«, platzte Helen dazwischen.
» Ich«, setzte Julius Turnseck unbeirrt fort und drückte Helens Hand noch fester, » ich mag Sie einfach unglaublich gern. Ich könnte es erklären, es gibt ja tausend Gründe, aber das ist es nicht« – er zog die Hand näher zu sich heran – » ich habe Sie einfach schrecklich gern!«
Helen wurde heiß, es juckte sie am ganzen Körper, und in ihren Schläfen hämmerte es laut. Sie entschuldigte sich, sie müsse jetzt aber doch mal ganz dringend wohin, und sprang vom Tisch auf und los.
Julius Turnseck fing zu lachen an. » Entschuldigung«, rief er und zeigte auf ihre schuhlosen Füße.
» Nicht lachen«, knurrte Helen und langte nach den Stiefeln unter dem Tisch. Die anderen Gäste starrten schon zu ihnen hin; sie schlupfte schnell in ihre Stiefel und rannte zu den Toiletten.
Noch Wochen später hatte Helen immer wieder diese Bilder vor Augen: Julius Turnseck in den unpersönlichen Räumen der Bank, mit den dunklen, holzgetäfelten Wänden, den riesigen Fensterflächen und dem glatten eisgrauen Teppichboden. Sie stellte sich vor, wie er sich in den Toiletten am Waschbecken die Zähne putzte und sich von Kopf bis Fuß mit dem Waschlappen wusch, mit den energischen Bewegungen eines Soldaten. Wie er sich auf dem Klappbett ausstreckte, die Decke zum Kinn hochzog und aus den Fenstern starrte, vor denen es keine Jalousien gab und die Lichter der Stadt grell leuchteten. Sie vermengte in ihrer Vorstellung das neue silberne Bankgebäude in Frankfurt mit dem Gebäude, in dem sich diese Nächte tatsächlich abgespielt haben mussten, in der alten Zentrale, die sie gar nicht kannte; die Fenster wurden immer größer, die Bank immer unpersönlicher und die leeren Gänge immer gespenstischer, die ganze Situation überhaupt immer absurder und grauenhafter. Ihr Herz war voller Mitleid, dabei war doch alles schon lange vorbei.
Julius Turnseck hingegen war in den nächsten Wochen am Telefon von einer eigentümlichen Schüchternheit der jungen Frau gegenüber, der er so vieles von sich preisgegeben hatte und deren Zweifel an ihm und seiner Zuneigung zu ihr er gern wieder zerstreut hätte. Er hielt sich mit seiner väterlichen Kritik an ihrer Studierweise zurück und fragte sie immer häufiger danach, was sie denn mit ihrer neuen Freundin unternahm und was sie in ihren langen Nächten für Bücher verschlang. In seiner Stimme klang eine neue Zärtlichkeit für Helen mit, die ihre Sorge, welche Bedeutung sie nun als Tochter oder Nichttochter für ihn hatte, sich allmählich wieder verflüchtigen ließ.
5 Das Glück der Stimme
» Hallo?«
» Guten Morgen, liebe Helen! Ich bin’s.
» Ach, halloooo!«
» Und, wie geht es Ihnen heute Morgen?«
» Gut, danke, und selbst?«
» Sehr gut, wenn ich Ihre Stimme höre! Was machen Sie gerade?«
» Ich trinke Kaffee, die andern sind schon los, ich lese.«
» Was lesen Sie denn Schönes?«
Die Gespräche waren manchmal sehr kurz, nur wenige Minuten, und manchmal dauerten sie eine halbe Stunde oder länger. Helen zerrte den Apparat an der langen Schnur in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie hockte auf dem Flokati, der neben ihrer Matratze am Boden lag, oder saß an ihrem Schreibtisch und sah aus der Balkontür in die grünen Zweige der Kastanie oder kritzelte auf ihre Notizblätter. Manchmal klopften Anders oder Katrin an, wenn sie das Telefon brauchten. Manchmal gingen sie auch an den Apparat, wenn es klingelte, und riefen dann aufgeregt nach Helen.
Julius Turnseck rief nicht nur an, wenn er Post von Helen erhielt. Doch sobald er einen Brief bekam, reagierte er umgehend und bat Helen auch gleich wieder, ihm zu schreiben. » Es ist so schön«, sagte er, » wenn diese bunten Umschläge auf meinem Schreibtisch landen!« Und Helen lachte dann: »Ich freue mich, wenn Sie sich freuen!«
Während Julius Turnseck im Wagen saß und von Herrn Lippens von einem Termin zum anderen
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