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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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chauffiert wurde, zwischen dem Ruhrgebiet und Hessen, zwischen Bochum, Essen und Hannover, Düsseldorf und Frankfurt am Main, vom Flughafen zur Bank, zu anderen Unternehmen und wieder nach Hause, hatte er oft seine Akten auf dem Schoß liegen und sah sie durch, manchmal auch, während sie sprachen. Helen hörte dann, wie er die Seiten umblätterte; es störte sie nicht. Sie spürte seine Aufmerksamkeit. Sie hörte das leise Rauschen der Limousine, die kaum ein Außengeräusch durch die Sicherheitsfenster hineindringen ließ, und trat in den Innenraum seiner Stimme, die sich ihr immer weiter öffnete, wie lange Spaziergänge auf einer hellen Lichtung.
    Die Stimme … die Stimmung … ein Klavier stimmen … verstimmt sein … Melodisch war sie, biegsam, manchmal halblaut, liebevoll, zärtlich, dann wieder zupackend, fordernd, sachlich, ein wenig eingefärbt von seinem Tag, heiser, wenn er viel hatte sprechen müssen, aber auch entspannt, oft gegen Abend, mit dem leichten Anklang an den Zungenschlag des Ruhrpotts … eine Stimme, in der Stimmungen nachhallten, mitschwangen, sich wandelten –
    Sie wusste genau, wann er es eilig hatte, und sagte es, sie spürte, wenn er sich auf das, was er durchsah, stärker konzentrieren musste, und schlug vor, das Gespräch zu beenden. Sie spürte, wenn er von einer Sitzung angespannt war und sich eine heitere Anekdote wünschte, irgendetwas Fröhliches aus ihrem Alltag, das ihn zerstreute und entspannte. Sie erzählte ihm von den Romanen, die sie neben ihrem Studium las, und er bat sie hin und wieder, ihm den Titel des Buchs oder ein Zitat im nächsten Brief aufzuschreiben. Sie bemerkte, wann er guter Dinge war und innerlich mehr Zeit hatte, um genauere und ausführlichere Gespräche zu führen. Helen reagierte auf seine Stimmungen mit feinen Ohren und einem schier unerschöpflichen Repertoire an Geschichten. Das unmittelbar Politische wich immer weiter zurück, doch es gab Tage, an denen Julius Turnseck Helen um ihre Meinung bat, er wollte wissen, wie Jüngere über Entscheidungen in der Politik, die seine Geschäfte berührten, dachten, und vor allem immer wieder, was Helen als wesentlich für eine zukünftige Gestaltung der Welt erachtete.
    Für Helen war es, als öffnete sich in ihrem gewöhnlichen Leben, das von vielen Ereignissen und Gefühlen erfüllt und ihr meistens recht unübersichtlich vorkam, eine Schneise, in der sie sich sammelte und konzentrierte. Die klare, manchmal zärtlich kratzige Stimme Julius Turnsecks, sein Interesse an ihren Belangen, die Art, mit der er intellektuelle Fragen erörterte und sie » konsultierte«, gaben ihr ein Gefühl der Achtung und der Sicherheit. Es entwickelte sich eine eigene Intimität, obwohl sie sich weiterhin siezten und eine respektvolle, geheimnisvolle Distanz wahrten.
    Jemand, der schon länger auf der Welt ist, würde mutmaßen, dass genau darin ein Teil des Zaubers lag; und vielleicht oder auch sicherlich war sich Julius Turnseck darüber im Klaren. Helen hingegen lernte Zusammenhänge dieser Art gerade erst kennen.
    Lieber Herr,
    Ihre Frage ist nicht so leicht zu beantworten, warum junge Menschen auf Sie heute oft so traurig wirken. Ich glaube, viele empfinden das Leben als Last. Es gibt keine grundsätzliche Liebe zum Leben, weil man einfach da ist, ich meine, so eine Dankbarkeit, wie mein Opa sie hat. Die Liebe – ob nun zum Leben oder zu einem Menschen – wird überhaupt eher als Glücksfall erachtet, etwas, das kommt und geht, und die Vorstellung einer andauernden Geduld, eine Stetigkeit – es ist, als hätten viele das gar nicht kennengelernt. Alles muss schnell gehen und leicht sein. Alles, was schnell geht, macht traurig. Ich muss aufhören, das zu schreiben, ich werde ganz traurig davon!
    Bis ganz bald, es grüßt Sie: Ihre Helen
    6 Auf der Alm
    Wie anders aber erging es Helen in der restlichen Welt, mit anderen Menschen, die älter waren als sie!
    Bevor sie wegen ihrer metaphysischen Unfähigkeit den philosophischen Lehrherrn wechselte, was der Ordnung halber für das Wintersemester geplant war, musste Helen mit Herrn Professor Raabes Magisterstudenten und Doktoranden zu einem Blockseminar übers Wochenende in die Berge mitfahren, da dies nun einmal vereinbart gewesen war. » In den Bergen ist man dem Himmel näher«, hatte Professor Raabe gesagt, » das ist gut für die Metaphysik.«
    Obwohl Helen bereits am Donnerstagnachmittag von einer Migräneattacke gequält wurde, packte sie ihre Tasche und bereitete wenig

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