Der Tag ist hell, ich schreibe dir
motiviert ihr Referat über » Naturphilosophie und Medizin« vor, um am Freitagmittag, mit mehreren Kopfschmerztabletten und einer großen dunklen Sonnenbrille ausgestattet, die anderen Teilnehmer am Hauptbahnhof zu treffen. Es war nur ein Teil der Gruppe; einige Studenten wurden von Professor Raabe im Wagen mitgenommen. Ja, im Wagen, so hatte einer der beiden älteren gesagt, der über Max Schelers Anthropologie promovierte, nicht etwa im Auto. Helen war die einzige junge Frau. Ihr Kopf dröhnte, in ihrer Schläfe pochte es, und sie wäre zu gern umgekehrt, denn sie wusste, dass sie ihr Referat auch nicht annähernd im Griff hatte und dass ihr in den Bergen – außer im Winter beim Skifahren – immer schwindelig wurde, was die Kopfschmerzen noch verschlimmern würde. Professor Professor Weberknecht hatte völlig recht, Metaphysik war eindeutig nicht ihre Sache. Als sie vom Bahnhof aus in einem Taxi zur Hütte gebracht wurden, in der Professor Raabe wohl schon einige Male ein Wochenendseminar abgehalten hatte, und der Mercedes sich in die immer steiler werdenden Kurven legte und an immer grüneren und saftigeren Bilderbuchwiesen mit malmenden Kühen vorbeifuhr, kämpfte Helen mit allerletzter Kraft gegen eine entsetzliche Übelkeit an und rannte, an der Hütte angekommen, mit einem herausgepressten » Tschuldigung« erst einmal ins Bad und übergab sich. Im Spiegel sah sie eine bleiche Fratze und fragte sich, weshalb sie sich nicht einfach abgemeldet hatte. Während sich immer schwerer wiegende Fragen einstellten, wieso sie hier war und wieso sie überhaupt Philosophie studieren musste und wieso sie nicht lieber in Paris geblieben war, wusch sie ihr Gesicht und wartete, bis sie sich halbwegs wieder gefasst hatte. Schließlich holte sie tief Luft und ging den Stimmen nach ins Wohnzimmer, an dessen Wänden ein riesiger Prachtschinken mit bayerischer Alpenlandschaft hing sowie drei riesige Geweihe. Sie zögerte, den Raum zu betreten, und blinzelte, weil das Sonnenlicht schräg durch das Fenster hereinfiel und sie blendete. Allmählich machte sie Herrn Professor Raabe aus, der ein am Kragen geöffnetes weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln trug und geradezu jungenhaft vergnügt wirkte, umgeben von lauter jungen Männern. Er wandte sich soeben einem von ihnen zu, und Helen sah zu ihrem Erstaunen, wie er ihn am Oberarm packte und auf eine ganz eigentümliche Art dicht an sich heranzog. Sie erkannte, dass es sich um Hajo handelte, den schönsten Jungen des Instituts, wie viele ihn nannten. Ein braun gebrannter, blond gelockter junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, der sich mit der Eleganz alter Spielfilme und der Lässigkeit eines Sportlers bewegte und der, das wussten alle, seine brillante Magisterarbeit über die Voraussetzungen jesuitischer Eschatologiekonzepte gar nicht erst abschließen musste, sondern direkt in eine Doktorarbeit verwandeln durfte. So begabt war er, dass er als neuer Lieblingskandidat von Professor Professor Weberknecht galt, und so schön war er, dass alle weiblichen Wesen seufzten, wenn er in Jeans und kariertem Pullunder über dem Sporthemd in der Bibliothek oder in den Seminarräumen aufkreuzte.
Das Sonnenlicht fiel auf Hajo und umgab ihn wie eine Aureole, die auf das Zimmer ausstrahlte. Helen blinzelte noch immer, als Professor Raabe sie bemerkte, zurückzuckte und dann mit ausgestreckter Hand auf sie zukam.
Während die jungen Männer das herrliche Sonnenwetter genossen und entspannt auf der blühenden Wiese lagerten und einander zuhörten, kämpfte Helen mit Niesreiz, Kopfschmerz und der Pein, nicht dazuzugehören und nicht dazugehören zu wollen. Professor Raabe hatte niemals ein einziges Wort zu ihr gesagt, weshalb er sie loswerden wollte, und er ließ sie jetzt, als sie Thure von Uexkülls ganzheitliches Weltbild und seine Überlegungen im Hinblick auf moralische Fragen im Bereich der Medizin in den Fünfzigerjahren referierte, freundlich lächelnd auflaufen. Mit nur wenigen, aber gezielten Fragen demontierte er die logischen Schwächen ihrer Arbeit und die mangelnden Voraussetzungen ihrer methodischen Herangehensweise.
» Aber wir wollen nicht allzu streng sein«, sagte er abschließend und sah die jungen Männer an, die offen feixten, » Fräulein Helen ist ja schließlich unser Nesthäkchen!« Und alle lachten, erleichtert, dass es nicht sie selbst getroffen hatte, und Helen war froh, die riesige Sonnenbrille auf der Nase zu haben und einen Heuschnupfenanfall vortäuschen zu
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