Der Tag ist hell, ich schreibe dir
nur immer ganz klar eine harte Haltung gegen die DDR und gegen die Sowjetunion gezeigt. Es war das erste Mal, dass sie so etwas Persönliches über sich sagte. Ich glaube, sie musste sich wirklich überwinden, sie hat mich so gequält angesehen, dass es mir schon wieder leid tat, sie so bedrängt zu haben. Sie sagte, sie habe wohl das, was sie bei sich zu Hause ein doppeltes Bewusstsein nannten.«
» Will heißen?«
» Die Kunst der gespaltenen Zunge, eine gelernte Schizophrenie, na ja, dass man eben nach außen nicht zeigt, was man denkt oder fühlt, dass man es ständig kontrolliert, bis man auf zwei Ebenen denkt und fühlt. Sie sagte, es sei ihr so zur zweiten Natur geworden, niemandem zu vertrauen, dass sie nicht einmal darüber nachgedacht hat.«
» Mh«, machte Julius Turnseck noch einmal. Er hatte die Ellenbogen aufgestützt und die Hände unter dem Kinn ineinander verschränkt und hörte Helen aufmerksam zu. Er machte dabei den für ihn so typischen Schmollmund, der seine Konzentration verriet. Helen hatte einen Augenblick das Gefühl, jenen ungewohnten Ausdruck in seinen Augen wahrzunehmen, den sie nicht einzuordnen wusste. Sie war sich nicht sicher, ob sie diesen Ausdruck mochte. Es war, als sähe ein Auge, das dunkler schien als sonst, sie liebevoll an, während das andere, das etwas schräger stand, durch sie hindurch eine mathematische Formel zu betrachten schien. Es dauerte nur kurz; als merkte er es, wechselte der Ausdruck, das ganze Gesicht schien ihr nun vollkommen harmonisch zugewandt zuzuhören, die helle Haut, der Mund, der sich löste, die Nase, die Wangen, die Augen, und Helen entspannte sich wieder.
» Ist das nicht eigentlich immer so?«, fragte er.
Helen stutzte. Sie überlegte.
» Nein«, sagte sie, » ich hoffe, nicht! Jedenfalls nicht, wenn man noch jung ist, wie wir. Oder? Vielleicht im Beruf später … aber nein, ich glaube nicht, dass das, was sie beschreibt, normal ist. Jedenfalls sagt sie, es sei für sie nicht leicht, sich jemandem zu öffnen. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt, ich meine, von meinen Freunden und Freundinnen. So explizit. Sie habe manchmal sogar das Gefühl, sich selbst nicht über den Weg zu trauen. Vielleicht ist es oft so zwischen den Menschen, aber wenn ich an meine Freunde sonst denke, bin ich niemals gegen eine so sonderbare Mauer geprallt wie bei ihr, bei gleichzeitiger Nähe.«
Während Helen erzählte, schien sie alles andere um sich herum zu vergessen.
» Wie denken Sie eigentlich über mich?«, fragte Julius Turnseck unvermittelt. » Finden Sie mich auch so – so«, er suchte nach dem passenden Wort, » verschlossen?«
Helen sah ihn überrascht an. Plötzlich überkam sie wieder das starke Gefühl der Rührung, das sie nach ihrem ersten Treffen damals in Frankfurt in der S-Bahn gehabt hatte. Sie senkte die Lider, wiegte den Kopf hin und her.
» Nein«, sagte sie entschieden.
» Aber Sie, Helen, Sie haben etwas auf dem Herzen, womit Sie nicht herausrücken wollen?«
Helen wurde feuerrot.
» Ach, Helen, es wäre so schön, wenn Sie mitkämen! Ich glaube, es würde Ihnen gefallen, die ganze Region, der trockene Humor, die Leute. Die Industrielandschaft mit den alten Fördertürmen, den Flüssen, ich bin mir sicher, dass Sie es lieben würden. Es gibt ja auch Museen und Theater! Sie könnten in Bochum Ihr Studium beenden und bald selbst an der neuen Uni unterrichten. Überlegen Sie es sich doch noch einmal!«
Seine Augen leuchteten. Helen dachte, wie reizvoll es wäre, dort hinzugehen, wenn es eine gewisse Person nicht gäbe. Sie löffelten ein halbes Tiramisu und tranken einen Cappuccino, sie mit Zucker, er ohne, und Helen versprach Julius Turnseck, darüber nachzudenken. Dann erzählte er von Kanada und einem Mitarbeiter, der mit ihm im Flugzeug gesessen und ihm allen Ernstes vorgeschlagen hatte, ihm ein Horoskop zu erstellen. Sie lachten darüber und redeten noch eine Weile, ohne jeden Plan, durcheinander, über das Wetter, über München im Sommer und Helens Ferien.
Der sizilianische Kellner kam und brachte ihnen noch ein paar Kekse und Vino Santo, in den man sie tunken sollte, doch Helen folgte einer Laune und trank den starken, süßen Alkohol in kleinen Schlückchen. Sie schloss die Augen dazu und spürte erst das Brennen im Mund und dann in ihrer Kehle. Auf den Lippen blieb der süße Geschmack zurück. Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie, wie Julius Turnseck ihr zusah, wie er sie ansah. Wie er auf ihren Mund sah. Sie
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