Der Tag ist hell, ich schreibe dir
fühlte sich ertappt, wollte erschrecken, doch er lächelte sie sehr sanft und sehr entwaffnend an. Sie lächelte zurück, und einen Augenblick lang fanden sich ihre Augen anders als die ganze Zeit zuvor. Sie schwiegen kurz, und mit einem gewissen Einverständnis, dann lachten sie beide zugleich auf, als beendeten sie eine musikalische Phrase, und Helen spürte die Wirkung des Alkohols seltsam durch ihren Körper laufen. Sie sah die Kerzenlichter deutlicher als zuvor, während der Raum um sie herum angenehm verschwamm, und Julius Turnsecks Gesicht kam ihr viel jünger vor, und unbekümmerter, viel näher an ihrem eigenen Alter. Sie redeten über lauter liebenswürdige Belanglosigkeiten, über die man mit jemandem spricht, den man häufig sieht, dem man nahe ist, mit dem man viel Zeit verbringt, und Julius Turnseck nahm immer wieder einmal Helens Hand, die vom Essen etwas ölig und leicht klebrig war, in die seine. Sie spürte sie warm und angenehm, und manchmal wehte sein Geruch zu ihr. Die Zeit verging so fein und freundlich langsam, wie sie es noch nie zusammen erlebt hatten.
Spät, sie waren fast die letzten Gäste, brachen sie auf. Helen begleitete Julius Turnseck noch ein paar Meter auf der Maximilianstraße entlang zu seinem Hotel, dem Vier Jahreszeiten. Der Abend war mild, Lichter fielen von den Laternen und Ladenbeleuchtungen auf die Straße, alles schien Helen federleicht. Julius Turnseck bot ihr seinen Arm; sie hakte sich ein. Sie schlenderten das kurze Stück vom Roma zum Hotel sehr gemächlich entlang, etwas weiter und wieder zurück. Kurz vor dem Eingang umarmten sie sich, und dann nahm Helen ihren Weg nach Hause. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal um, lachte, weil er tatsächlich noch dort stand und ihr nachsah, eine schlanke, aufrechte Silhouette, und sie winkten sich ein letztes Mal zu.
15
Lieber Herr,
in meiner Vorlesung über Grundfragen der Philosophie habe ich heute ein sehr schönes Zitat von Goethe notiert, zur Frage der Entelechie, von 1830.
» Die Hartnäckigkeit des Individuums und dass der Mensch abschüttelt, was ihm nicht gemäß ist, ist mir ein Beweise, dass so etwas existiert.«
16 In der Oper
Helens Situation sollte sich auf verblüffende Weise klären, als Herr Dr. Sedlitzky sie eines Tages einlud, ihn in die Oper zu begleiten.
Helen und ihr Freund Anders hatten sich innerlich voneinander entfernt, das heißt, vielleicht hatte Helen sich von Anders entfernt, es geschah einfach wie so vieles in Helens Leben, und sie sagte sich, aus Unerfahrenheit und Erfahrenheit zugleich, dass es wenig Sinn hatte, sich dagegen zu wehren. Durch Zufall bekam sie mit, dass eine Kommilitonin eine Nachmieterin für eine Ein-Zimmer-Wohnung suchte, und sofort rief sie: Ich! Ich will sie! Denn die Wohnung lag direkt gegenüber von Madame Pompadour, das heißt der Alten Pinakothek, zwischen Königsplatz und Technischer Universität, hoch oben im vierten Stock, mit einem wunderbaren Blick auf das Brachland zu ihren Füßen und die Lichter der Stadt am Abend. Hätte Helen durch die dicken Mauern des Klenze-Baus sehen können, hätte sie Madame Pompadour zunicken können. So konnte sie am Fenster stehen und ihr winken.
Kaum war Helen in die von ihr frisch renovierte Wohnung eingezogen, stand ihre Freundin Sabrina aufgelöst vor der Tür. Auch sie wollte gerade umziehen, in eine Mansarde nicht weit von Helen entfernt, auf die sie sich gefreut hatte, doch plötzlich hatte sie Panik erfasst und unter Tränen bat sie Helen, ihr zu helfen: Sie könne und wolle um keinen Preis allein wohnen.
» Das fällt dir ja früh ein«, sagte Helen. » Das sollten wir mal deinem Vermieter sagen.«
Sie sagten es dem Vermieter, und da in Sabrinas WG -Zimmer schon am folgenden Tag ein Nachfolger einziehen sollte, packten sie kurzerhand Sabrinas Habe und brachten sie in Helens Wohnung. Eine himmelblau gestrichene Truhe, auf der Sabrinas alte Puppen saßen, die Matratze, die sie vor die Heizung am Fenster legten, ein paar Tassen und Teller, drei Kisten mit Kleidern und Büchern. Da Anders so beschäftigt war, den beiden beim Umziehen zu helfen, konnte er nichts für sich selbst suchen, und so zog er ebenfalls bei Helen ein.
Nun saßen sie zu dritt an Helens blauem Gartentisch aus Blech mit drei blauen Gartenklappstühlen, frühstückten zusammen, aßen zu Abend und tranken manchmal auch am Nachmittag zusammen Tee. Sie redeten über alles, was es zu bereden gab, das Leben im Allgemeinen und Besonderen, die
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